Die Facettenreiche

von Redaktion

Zu Sophie Scholls 100. Geburtstag: Robert M. Zoskes Biografie

VON MICHAEL SCHLEICHER

Es gab nicht den einen Punkt, an dem ihr Weltbild kippte. Im Leben von Sophie Scholl, die am 9. Mai vor 100 Jahren in Forchtenberg (Baden-Württemberg) geboren und am 22. Februar 1943 in München von der Nazis ermordet wurde, lässt sich nicht exakt festmachen, wann die Abkehr vom NS-System stattgefunden hat. Sie war eine begeisterte, aktive Mitläuferin und wurde zum ebenso überzeugten Mitglied der Widerstandsgruppe Weiße Rose. Es war ein langsamer, wohl auch quälender Prozess, der spät einsetzte. Später, als etwa ihre Schwester Inge nach dem Krieg wahrhaben wollte.

Zum Beispiel die Reichspogromnacht, die Hatz auf jüdische Menschen, die Verwüstung ihrer Synagogen und Geschäfte vom 9. auf den 10. November 1938: An jenem Tag „hört man nichts von Sophie“, wundert sich Biograf Robert M. Zoske. „Obwohl sie am nächsten Tag zwei lange Briefe schreibt.“

Der Historiker und Theologe zeichnet in „Sophie Scholl: Es reut mich nichts“ den Weg nach, der aus dem „begeisterungsfähigen, mitunter naiven Mädchen eine kritische und charakterstarke Frau“ werden ließ: „Der Mensch Sophie, wie er uns aus den Quellen entgegentritt, hatte viele Facetten, von denen die todesmutige Gefangene, wie sie am Ende vor dem Volksgerichtshof ist, nur eine von vielen ist.“ Es ist Zoskes Stärke, dass er viele dieser Aspekte beleuchtet. Konsequent nutzt er sie als Kapitelüberschriften – von „Tochter“ und „Hitlermädchen“ über „Kindergärtnerin“ und „Arbeitsmaid“ bis hin zu „Studentin“, „Rebellin“, „Märtyrerin“.

Sein Buch stützt sich vor allem auf die vielen Briefe, die Scholl geschrieben und erhalten hat, sowie auf Erinnerungen von Zeitzeugen; Letztere ordnet der Autor glücklicherweise kritisch ein. Im Anhang finden sich zudem zahlreiche Dokumente im Wortlaut: die Ermittlungsakte, die Vernehmungsprotokolle, aber eben auch sehr persönliche Texte der Jugendfreundinnen. Hier lassen sich also wichtige Quellen im Original studieren.

Zoske, der an manchen Stellen zu stark theologisch interpretiert und dabei die Basis der Fakten verlässt, arbeitet dennoch nachvollziehbar die Augenöffner für Scholl heraus: etwa die Strafverfolgung ihres Bruders Hans wegen „bündischer Umtriebe“, die Berichte von der Ostfront, ihr Reichsarbeitsdienst. Die wachsende Gewalt des Regimes und die zunehmende Forderung nach Gehorsam stießen die junge Frau mehr und mehr ab. Denn eines konnte Scholl kaum ertragen: Freiheitsbeschränkung. „Von Politik verstehe ich nicht viel, aber ich weiß zu unterscheiden zwischen Recht und Unrecht“, schrieb sie in einem Brief.

Robert M. Zoske:

„Sophie Scholl: Es reut mich nichts“.

Propyläen, Berlin, 448 Seiten; 24 Euro.

Artikel 4 von 7