Natürlich will man wissen, was dahinter ist. Das weiß Erwin Olaf. Deshalb hat er in einem der Ausstellungsräume der Kunsthalle München seine Installation „Keyhole“ (2011/12) aufgebaut: ein verschlossenes Kabinett, an den Stirnseiten je eine Tür. Davor je ein Stuhl. Verführerisch leuchtet das Licht aus den Schlüssellöchern zu uns in den Raum hinein. Gleich einer Einladung: Nun komm schon, setz dich nieder – und schau, was hinter den Wänden lauert. Es ist ein Spiel und es funktioniert. Man beugt sich vor, sieht hinein – und ist verstört. Warum eigentlich? Hinter dem Schlüsselloch läuft doch nur eine kurze Videosequenz in Endlosschleife. Darin zu sehen unter anderem ein Mann, der mit einem Buben auf dem Bett sitzt. Warum wird einem bei diesem Anblick so übel? Warum möchte man wegschauen? Weil die Geschichte nicht zu Ende erzählt wird. Das eigene Hirn muss sie weiterspinnen. Das ist das Grundprinzip von Erwin Olafs Fotokunst. Er gibt einen Anstoß – und überlässt uns unserer Fantasie.
Der 61-jährige niederländische Fotograf macht uns auf diese Weise zu Voyeuren, zu Mitwissern. Bewusst setzt er fast immer auf Fotoserien, er möchte Erzählungen beginnen. Die Atmosphäre darin ist meist beklemmend, irgendetwas stimmt nicht – was das ist, müssen wir in unserer eigenen Seele ergründen. Erwin Olaf sieht sich da in einer Tradition mit Marcel Duchamp (1887-1968), der einmal formulierte: „Es sind die Voyeure, die Bilder machen.“
Absolut stimmig der Ausstellungstitel „Unheimlich schön“. Olafs künstlerisches Können ist irrsinnig. Sein Spiel mit Licht und Schatten, die Art, wie er seine Protagonisten opulent in Szene setzt, erinnert an Gemälde der Alten Meister. Doch was der Künstler zeigt, das hat mit Schönheit oberflächlich betrachtet nichts zu tun. Er lässt uns in Abgründe blicken; leuchtet die Narben seiner nackten Models aus. Er lässt sie vor dem Shooting fesseln, in aberwitzigen Posen verharren; er schreckt nicht vor expliziten Sexszenen zurück. Und doch findet, wer sich darauf einlässt, in diesen oft abstoßenden, häufig deprimierenden Bildern auch immer wieder Erwin Olafs hintergründigen Sinn für Humor. Ikonisch sein Werk „Powerlifting II“ (1985). Ein äußerst ansehnlicher junger Mann steht in eindeutiger Pose da: das Gesicht mit erregtem Blick gen nacktem Unterleib gerichtet. In den Händen hält er eine übersprudelnde Flasche Champagner – der Inhalt spritzt ihm fast ins Gesicht. Anzüglich? Durchaus. Dekadent? Aber ja. Provokation geglückt? Und wie!
Wenn man Erwin Olaf dann trifft, den nicht mehr ganz so jungen Wilden, und ihn um ein gemeinsames Foto vor einem seiner Lieblingsbilder in der Ausstellung bittet, fragt er, mit Blick auf die High Heels der Fragenden, neckisch: „Klar. Lässt du die High Heels an und ziehst den Rest aus fürs Bild?“ Und setzt danach ein einnehmend freches Grinsen auf – Erwin Olaf lebt seit Jahren offen schwul.
Bei aller Schwere, die in dieser Schau mitschwingt, bei all dem Hadern mit der eigenen Körperlichkeit des alternden, seit Jahren lungenkranken Künstlers, muss man diesen lebenslustigen Witz im Hinterkopf haben, um Olafs Kunst so richtig genießen zu können. Es ist keine leichte Kost, die er uns serviert. Weil auch das Leben nicht immer leicht ist. Sondern oft unheimlich. Doch auch unheimlich schön.
bis 26. September
in der Kunsthalle München in den Fünf Höfen. Täglich 10 bis 20 Uhr. Infos: www.kunsthalle-muc.de