Die Schauspieler sind gekommen – endlich! Doch gar furchtbar ist ihr Zustand im Münchner Residenztheater: Reglos liegen sie wie aufgebahrt in Krankenbetten, einzig Bluttransfusionen halten sie am Leben. Der Tropf und seine Halterung werfen im hellen Bühnenlicht einen bizarren Schatten auf die Bettdecken. Es scheint, als halte jeder ein Kreuz in Händen. Besorgniserregend ist die Lage, verdammt ernst.
Natürlich ist die Szene aus dem neuen „Hamlet“ des Staatsschauspiels auch Regisseur Robert Borgmanns bittere Bestandsaufnahme der Kulturpolitik in Pandemiezeiten. Doch gibt es eine gute Nachricht: Sie leben, immerhin – am Donnerstag ging nach 191 Tagen Zwangspause der Vorhang im Residenztheater wieder hoch. Hinter der Bühne herrsche eine Stimmung, als falle der erste Schultag und Heiligabend zusammen, berichtete Intendant Andreas Beck zur Begrüßung der 206 Menschen im Saal, die derzeit erlaubt sind: „Schön, dass Sie alle wieder da sind. Sie haben uns gefehlt.“
Es passt, dass sie nun mit Shakespeares Tragödie neu starten. In „Hamlet“ (1601/02) bringt das Schauspiel schließlich die Wahrheit ans Licht: den feigen Brudermord, durch den sich Claudius die Krone Dänemarks und die Witwe des Königs krallt. Prinz Hamlet überführt den Onkel, indem er Szenen in eine Aufführung schmuggelt, die an Claudius’ Tat erinnern. Kunst als Seismograf des Lebens und seiner Verwerfungen – nicht das schlechteste Argument, gerade in unsicheren Zeiten.
Robert Borgmann, der unter Becks Vorgänger Martin Kušej den viel gelobten Abend „Die Verlobung in St. Domingo“ nach Heinrich von Kleist im Cuvilliéstheater einrichtete, siedelt seine Inszenierung in einem alb-traumhaften Zwischenreich an. Wenig ist hier so, wie es scheint. Der Mord an Hamlets Vater hat das System in Schieflage gebracht – der nach hinten ansteigende Boden gibt Zeugnis davon. Sicher und fest scheint in diesem Bühnenbild, das der Regisseur entworfen hat (Mitarbeit: Jonas Vogt), nichts zu sein: Die Wände sind aus Tuch, Vorhänge öffnen und schließen sich (offenbaren und verbergen also) scheinbar beliebig. Zu Beginn steht ein mehr als mannshoher, mehreckiger Quader im weißen Raum – ein Störfaktor, an dem Hamlet sich fortan abarbeitet. Die Welt ist aus den Fugen, weil ihr Kern verloren gegangen ist.
Doch dauert es, bis der knapp vierstündige Abend (eine Pause) auf die richtige Betriebstemperatur kommt. Im ersten Teil glücken dem Ensemble mitunter starke Szenen – das berührende, doch kontaktlose Gespräch zwischen Hamlet und dem Geist seines Vaters ist eine davon. Johannes Nussbaum in der Titelrolle und Michael Gempart als Wiedergänger des Ermordeten spielen hier mit stiller Ernsthaftigkeit. Doch stehen solche Momente zu sehr für sich, laufen nacheinander ab, statt miteinander in Beziehung zu treten. Lediglich die atmosphärische Musik und die verzwickten Klangcollagen, die Rashad Becker und Valerio Tricoli live im Bühnengraben feinsinnig zusammentüfteln, sorgen für ein lose geflochtenes Band.
Das ändert sich mit dem Auftritt der Schauspieler, die Hamlet Gewissheit geben – und der Inszenierung ein Zentrum. Wie es ihm gefällt, geht Borgmann nun recht frei mit dem Stück um (gegeben wird die kernige Übersetzung von Heiner Müller, die stellenweise stark gekürzt wurde). Der Regisseur greift sich Szenen, die ihm taugen, um zu zeigen, wie machtvoll die Kunst, das Theater sein kann. Immer wichtiger wird dabei die Figur von Hamlets Freund Horatio, den Katja Jung als Doppelgängerin der Philosophin Hannah Arendt zeigt. Ketterauchend ist sie in den meisten Szenen dabei, beobachtend, kommentierend. Als Horatio nach einer letzten Erzählung als einziger Überlebender die Bühne verlässt, bleibt diese leer zurück. Ein Zustand, den es nun wirklich lange genug gab.
Nächste Vorstellung
am Sonntag (ausverkauft); weitere Termine werden unter www.residenztheater.de veröffentlicht.