Mit Mini-Konzerten im Friseursalon oder in der Autowerkstatt, im Hallenbad oder in der Kletterhalle, in der Bar oder in der Buchhandlung demonstrieren die Musikerinnen und Musiker des Münchener Kammerorchesters (MKO), dass sie auch im Lockdown fleißig unterwegs sind. „Wir wollten nicht so tun als ob…“, betont Daniel Giglberger, der Konzertmeister des Ensembles, und fügt hinzu: „Uns widerstrebte es, für ein Stream-Konzert im Frack auf dem Podium zu sitzen, zu musizieren und uns danach in den leeren Konzertsaal hinein zu verbeugen.“ Zudem seien Streams technisch aufwendig und teuer.
Ein weiterer Grund für das MKO und sein Leitungsteam, auf die eigene Kreativität zu setzen und nach ungewohnten Ideen zu suchen. Im ersten Lockdown hatten sich die Mitglieder aufgemacht, um ihre Abonnentinnen und Abonnenten mit den kleinen Kammermusik-Überraschungen ihrer „Delivery-Aktion“ zu erfreuen. Sie spielten in Gärten und Wohnungen, auf Terrassen oder in Treppenhäusern und spendeten ihr Salär an die freischaffenden Kolleginnen und Kollegen. Auch in diesem Frühjahr hockt das Münchener Kammerorchester nicht frustriert herum und wartet auf bessere Zeiten, sondern hat eine neue Idee: „In the Neighbourhood“ (In der Nachbarschaft).
„Nachbarn“, so lautete das Motto der wegen Corona ausgefallenen Saison, das jetzt einfach in dieses Jahr hinein verlängert wird. „,In the Neighbourhood ist ein legendärer Blues-Titel von Tom Waits aus den Achtzigerjahren“, darauf weist MKO-Geschäftsführer Florian Ganslmeier hin. Den Blues im Ohr und das Instrument unterm Arm machten und machen sich die Mitglieder des MKO auf in die Nachbarschaft – nach Sendling und Giesing, Schwabing oder Haidhausen, ja sogar nach Dachau. Zu zweit, zu dritt, als Quartett oder auch zu mehreren suchen sie Orte auf, die – wie das Kulturleben – von der Pandemie stillgelegt wurden. Egal ob Buchhändlerin, Barkeeper oder Brautmoden-Designerin, sie alle reagierten auf die Anfragen begeistert und stellten ihre Räumlichkeiten gern zur Verfügung.
Das Kammerorchester lässt sich dabei nicht lumpen und spannt sein Repertoire auch bei den Petitessen weit: In der Autowerkstatt Nawrath, wo MKOler mit den Double Drums Griegs „In der Halle des Bergkönigs“ und Piazzollas „Libertango“ zum Klingen bringen. Im Schumann’s, wo sie Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller bei Schumanns „Abendlied“ begleiten und mit Heinrich Ignaz Franz Biber und Tōru Takemitsu kontrastieren. Alfred Schnittkes „Moz-Art“ erklang zwischen Brautmoden bei „Adeline Marx“ in der Maxvorstadt, und für die Kletterhalle des DAV in Thalkirchen hatten sich sechs Streicher Bagatellen von Dvořák ausgesucht. Dass die kleinen, von der fürs Internet zuständigen MKO-Kollegin Sanna Hahn filmisch originell eingefangenen Konzerte auch gut klingen, dafür sorgt (neben Gästen vom Bayerischen Rundfunk und der Filmhochschule) vor allem Konzertmeister Daniel Giglberger. „Er hat sich reingefuchst und quasi eine ‚Zweitkarriere‘ als Tonmeister gestartet“, sagt Florian Ganslmeier.
Giglberger selbst erzählt, dass er sich, unterstützt von einem kundigen Freund und ausgestattet mit einem Bearbeitungsprogramm, als Technik-Neuling hineingestürzt habe in die ungewohnte Aufgabe: „Ich lerne ungeheuer viel dazu.“ Sein großes Plus: Er kennt alle Kolleginnen und Kollegen sehr gut und weiß, wie sie klingen. Noch intensiver als zuvor denkt er über den Klang der einzelnen Mitglieder und des Ensembles nach. „Ich frage mich, was unser Ideal ist, und stelle somit auch eine Wechselwirkung zum Live-Musizieren her.“ Gut ein Dutzend Mini-Videos kann man auf der Webseite des Orchesters abrufen. Weitere sind in Arbeit.
Damit nicht genug: Das MKO hat auch Projekte in der Himmelfahrtskirche Sendling realisiert. Unter der Regie von Jenny Scherling entstand mit dem Münchner Komponisten, Klarinettisten und Dirigenten Jörg Widmann eine hochinteressante Dokumentation: Sie zeigt, wie Widmann mit dem Ensemble probt, musiziert und sympathisch über die gemeinsame Arbeit erzählt, aber auch über die spannende Programmauswahl mit eigenen Werken und solchen von Mendelssohn Bartholdy.
Für das zweite Video gewann das MKO den Dirigenten Enrico Onofri (Mitbegründer von Il Giardino Armonico). Unter seiner Leitung wurden „Antiche Danze“ von Respighi und Strawinskys „Apollon Musagète“ aufgezeichnet. Beim dritten Filmprojekt in der Himmelfahrtskirche war Geiger Christian Tetzlaff dabei – für Mozarts „Adagio und Fuge“ sowie Frank Martins „Polyptique“.
Zu den weiteren Aktivitäten im Lockdown gehörten CD-Produktionen: Unter der Leitung des Chefdirigenten Clemens Schuldt vereint eine Aufnahme Werke der beiden DDR-Komponisten Friedrich Goldmann und Georg Katzer. „Ein tolles Repertoire, das es wert ist, entdeckt zu werden“, schwärmt Ganslmeier – die Aufnahme erscheint im Herbst.