Der Titel ist unspektakulär, der geheimnisvolle Untertitel trifft die Sache schon eher: Mit „Metaphysics – The lost Atlantic Album“ erscheint das für immer verloren geglaubte Album von Hasaan Ibn Ali, einem obskuren Pianisten, der maßgeblich an der Entwicklung des Free Jazz beteiligt war. Gleichzeitig dokumentiert es eine jener Fußnoten der Musikgeschichte, die unbedeutend scheinen, aber in Wahrheit an Tragik kaum zu überbieten sind. Im Text zum Album berichtet Produzent Alan Sukoenig vom Leben und Wirken seines je nach Quelle 1980 oder 1981 verstorbenen Freundes.
Alles liest sich wie ein Krimi: Hasaan Ibn Ali, geboren 1931 als William Henry Lankford junior in Philadelphia, findet in den aufkommenden modernen Jazz-Spielarten fruchtbaren Nährboden für seine musikalischen Theorien. Er beginnt, einen einzigartigen Piano-Stil zu entwickeln: hart, furios und mit revolutionärem harmonischen Ansatz. Das interessiert unter anderem den späteren Free-Jazz-Giganten John Coltrane.
Musikalisch wie menschlich gilt der Pianist als inkompatibel – auf Jam Sessions verlassen andere Musiker regelmäßig die Bühne, weil sie Alis harmonische Konzepte nicht durchschauen. Der einflussreiche Schlagzeuger Max Roach erkennt Alis Potenzial und überzeugt 1964 die Plattenfirma Atlantic Records, in ein gemeinsames Album zu investieren. „The Max Roach Trio Featuring the legendary Hasaan“ erscheint im Frühjahr 1964 und überzeugt. Ali wird für weitere Aufnahmen ins Studio gebeten. Weil sich seine Kompositionen als unhandlich und hochkomplex erweisen, müssen sie Odean Pope (Tenorsaxofon), Art Davis (Bass) und Kalil Madi (Drums) vorab zwei Wochen lang mit Ali proben – eine im Free Jazz, der von Spontaneität und Interaktion lebt, vergleichsweise lange Zeit.
Im Spätsommer finden die Aufnahmen statt, aber noch bevor das Album gemischt werden kann, verhaftet die Polizei den Pianisten wegen Drogenbesitzes. Er muss ins Gefängnis, und die Plattenfirma stellt das Album genervt aufs hohe Regal. Ohne eine Tournee lassen sich nun mal schlecht Platten verkaufen. Das Projekt gerät in Vergessenheit. Als 1978 ein Atlantic-Lagerhaus in New Jersey abbrennt, gehen mit ihm die Originalbänder in Flammen auf. Es hält sich jedoch hartnäckig das Gerücht einer Sicherheitskopie.
Immer wieder werden Versuche unternommen, diese aufzustöbern. Der Jazz-Pianist und Coltrane-Biograf Lewis Porter schließlich stößt auf jemanden, der eine Ahnung hat, wo man suchen müsste. Tatsächlich liegt kurz darauf ein unspektakulär verpackter musikalischer Schatz auf dem Tisch, der 50 Jahre im Archiv vergraben war: sieben der neun Aufnahmen von 1964. Der Grammy-prämierte Studiotechniker Michael Graves bereitet diese sowie drei alternative Versionen auf für eine Doppel-Vinyl-Ausgabe beziehungsweise CD. Für Jazz-Anfänger sind die Werke schwere Kost. Aber auch Laien können darin Alis Boogie-Woogie-Wurzeln erkennen. Angesichts der Komplexität erschließt sich, wieso Saxofonist Pope seinen Bandleader als den „Prokofjew des Jazz“ bezeichnet hat.
So schön der Umstand auch sein mag, dass dieses Album allen Widrigkeiten zum Trotz doch noch Gehör finden darf, bleibt eine Sache bitter. Obwohl von seinen Zeitgenossen hochgeschätzt, ist Hasaan Ibn Ali nach einem Leben voller Schicksalsschläge unbekannt gestorben. Nachdem Atlantic Records die Aufnahmen nicht veröffentlichte, zog er sich in sein Elternhaus zurück und begann dort, seine Musik niederzuschreiben. Als das Gebäude 1972 abbrennt, gehen nicht nur sämtliche Notizen und Partituren in Flammen auf – seine Mutter kommt im Feuer um. Von diesem Schicksalsschlag sollte sich Ali nie mehr erholen. Er erleidet einen Schlaganfall, der das Klavier-Genie seiner musikalischen Fähigkeit beraubt. Ein gutes Jahr schlägt er immer wieder auf das Klavier in der Reha-Klinik ein, bevor er schließlich stirbt. Vielleicht verschafft ihm dieses Vermächtnis postum die Anerkennung, die er zu Lebzeiten verdient gehabt hätte.
Hasaan Ibn Ali:
„Metaphysics – The lost Atlantic Album“ (Omnivore Recordings, 180-Gramm-Doppelvinyl, CD und digital).
Furioser und revolutionärer
Piano-Stil
Notizen und Partituren gehen in Flammen auf