Ein Mensch macht eine Handwerkerlehre, wird dann Maler, Künstlerstar, ja Pop-Star. Das kann nur im 20./21. Jahrhundert passieren. Nein, das ist um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert geschehen, mitten in der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, von der Spätgotik zur Frührenaissance. Und zwar in dem Gebiet, das man heute Deutschland, Bayern, Franken, Nürnberg nennt. Damals eine Reichsstadt, nur dem Kaiser verpflichtet, wirtschaftlich global aufgestellt, eines der Topzentren der Welt.
Am 21. Mai 1471 kam Albrecht Dürer als drittes von insgesamt 18 Kindern in Nürnberg auf die Welt. Der Papa war ein ungarischer Goldschmied namens Ajtó (deutsch: Tür), daher „Dürer“, die Mama eine Einheimische. Die Familie fand sich in der Stände- und Zunftordnung Nürnbergs gut zurecht. Man war schließlich am neben Augsburg wichtigsten Standort für Gold-/Silberschmiedearbeiten. 1485 kam Albrecht beim Vater in die Lehre.
Dieser Sohn, der wohl schon als junger Bursche klare Vorstellungen von seinem Werdegang hatte, wollte aber Maler werden. 1486 bis ’89 machte er, wie damals üblich, eine Lehre in einer Werkstatt. Michael Wolgemut und Wilhelm Pleydenwurff waren da nicht die schlechtesten Meister. Damals gab es Idealisierungen wie Geniekult, Klischees vom leidenden oder Bohème-schlurfigen oder versponnenen Künstler nicht. Das waren Handwerker, Unternehmer, Auftragsempfänger – und Künstler, allerdings ihnen und ihrer Umwelt nicht richtig bewusst. Auch dieses Feld wird Albrecht Dürer umpflügen. Genauso wie die nordeuropäische bildende Kunst, weil er Italien über die Alpen in die Heimat brachte.
Hatte sich seine Gesellenwanderschaft noch zwischen Basel und Straßburg bewegt, reiste er einige Monate nach seiner Heirat mit Agnes Frey 1494 nach Venedig. Aquarelle erzählen von seiner Route über Mittenwald und den Brenner. Da schon zeigt sich, dass Natur nicht mehr als Staffage wahrgenommen, sondern wirklichkeitsgetreu, gewissermaßen analytisch wiedergegeben wird. Dürer ist damals bereits das, was wir eine Renaissance-Persönlichkeit nennen. Der Mensch rückt in den Kern der Aufmerksamkeit inklusive Fleischlichkeit, und Naturphänomene will man verstehen, berechnen, vermessen. Durch seinen Nürnberger Freund, den Patrizier Willibald Pirckheimer, und den Dichter Konrad Celtis wuchs Dürer in den Humanismus hinein; was sich später, gepaart mit seiner Religiosität, zu einer reformatorischen Überzeugung entwickelte.
Bei der ersten Venedigreise 1494/95 – man konnte damit der Pest entwischen – war jedoch erst einmal wichtig aufzusaugen, was die italienischen Kollegen so trieben. Sie hatten das Mittelalter hinter sich gelassen, beschäftigten sich mit antiken Vorbildern. Dürer lernte von ihnen. Lernen heißt hinschauen, genau hinschauen, noch genauer hinschauen. Der Nordeuropäer erfasste, von Farben und Licht abgesehen, dass die Darstellung der Dreidimensionalität entscheidend neu war. Der Raum musste Tiefe gewinnen (Perspektive), Körper mussten Volumen erhalten. Und das auf einer Fläche.
Zurück in Nürnberg, schien sich Dürer gerüstet zu fühlen, sein eigenes Unternehmen zu eröffnen. Noch im Haus seines Vaters richtete er sich eine Werkstatt ein. Umfassend in unterschiedlichen Techniken ausgebildet, analysierte er den Markt. Ein sicheres und beständiges Einkommen war vor allem mit Grafiken zu erzielen. Bei ihnen war er nicht von Aufträgen abhängig, die Herstellung war im Verhältnis zur Arbeitszeit günstig, und den Vertrieb organisierte er selbst. Die Arbeiten, etwa ein „Passions“- oder „Apokalypse“-Zyklus, waren für die Kundschaft eher erschwinglich als ein Gemälde.
Natürlich stellte Albrecht Dürer nicht Holzschnitte oder Kupferstiche als Massenmedium her. Seine Werke zählen bis heute zu den weltweit künstlerisch wertvollsten Schöpfungen in diesem Bereich. Einige wurden unglaublich populär: ob „Adam und Eva“, „Ritter, Tod und Teufel“ oder „Melancholie“. Sie werden nur noch übertroffen von dem „Jungen Feldhasen“, dem „Großen Rasenstück“ (Aquarelle) und der Pinselzeichnung „Betende Hände“. Diese Blätter, alle in der Wiener Albertina, sind längst geliebtes Allgemeingut.
Die Möglichkeiten der Grafik entwickelte Albrecht Dürer sein Leben lang weiter. Es sind 130 Kupferstiche, rund 350 Holzschnitte, auch diverse Radierungen sind bekannt. Dazu kommen über 1000 Aquarelle und Zeichnungen sowie die Bücher „Unterweisung der Messung“ – für ihn Grundlage der Malerei – und „Vier Bücher über die Proportion“, die zu einem Malerei-Lehrbuch werden sollten. Die Grafik wurde als selbstständige, nicht mehr illustrative Kunst etabliert. Gemälde entstanden gleichfalls in dieser Zeit: Porträts, Altar- oder Madonnenbilder; darunter der Paumgartner-Altar, benannt nach der Stifterfamilie, mit der Geburt Jesu. Die bezaubernde Szenerie und raffinierte Komposition befindet sich wie viele bedeutende Gemälde Dürers in Münchens Alter Pinakothek.
Sicher trat Dürer 1505 seine zweite Italienreise nicht nur wegen einer neuen Pest-Epidemie an. Er verspürte wohl eine künstlerische Unruhe in sich – die sich nicht einmal in Venedig befriedigen ließ. Er suchte also auch Bologna, Florenz und Rom auf. Knüpfte weitere Kontakte zu Kollegen, wägte außerdem kritisch ihre Liebe zur Antike. Zurück in Nürnberg, stieg seine Karriere in den Zenit. Er war berühmt, schuldenfrei, kaufte ein eigenes Haus, war „Genannter“ des Großen Rats, hatte Anschluss an die Gelehrten – war längst kein Handwerker mehr.
Für sich selbst hatte er das schon 1500 in seinem wichtigsten Selbstbildnis postuliert (Alte Pinakothek). Er präsentiert sich im gediegenen Pelzrock; was aber bedeutsamer ist, frontal zum Publikum und in der Proportion einer Christus-Ikone. Sehr direkt, sehr intensiv, sehr irritierend. Wagen durfte Albrecht Dürer das, weil die „Imitatio Christi“ erwünscht war und man ja immer „Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde“ (1. Mose, 1, 27) zitieren konnte. Der Künstler sieht sich in seiner Schöpferkraft mit Gott verbunden. Dass Dürer sich selbst ein Denkmal setzen wollte, deutet die Inschrift an: Er habe sich mit „unvergänglichen Farben“ gemalt.
Gesellschaftlich auf dem Gipfel des Ansehens war der Künstler, als Kaiser Maximilian I. ihm verschiedene Aufträge erteilte – sogar zu einer Porträtsitzung (1518). Je ein Dürer’sches Kaiser-Bildnis befindet sich in Nürnberg und Wien. Der malerische Höhepunkt bahnte sich sechs Jahre nach seiner Fahrt in die Niederlande (1520) an. Dürer, der sich immer kränker fühlte und am 6. April 1528 starb, setzte sich noch ein Denkmal – nicht mehr eitel, nicht mehr als Imagepflege, sondern als humanistisches, religiöses Vermächtnis an seine Heimat. Die beiden über zwei Meter hohen Tafeln mit Johannes und Petrus sowie Paulus und Markus, die „Vier Apostel“ genannt, überreichte er dem Rat der Stadt Nürnberg.
Die Gemälde, die heute ein Herzstück der Alten Pinakothek sind, beweisen am eindrucksvollsten, dass Albrecht Dürer sein Ziel erreicht hat: den Menschen in all seinen Dimensionen darzustellen – sinnlich-raumgreifend, psychologisch, seelisch und intellektuell.