Museumslichtspiele

von Redaktion

PREMIERENKRITIK Aribert Reimanns „Lear“ an der Bayerischen Staatsoper

VON MARKUS THIEL

Der Meister selbst ließ sich nicht blicken. Bei Aribert Reimann, gerade 85 geworden, mag das gesundheitliche Gründe gehabt haben oder emotionale, diese Rückkehr an den Uraufführungsort seiner erfolgreichsten Oper. Und vielleicht auch künstlerische: Corona-Abstandsgebote hin oder her – keine Stimme, kein Instrument durfte auf seinen Befehl hin gestrichen werden. Blechbläser und Schlagwerk des Riesenorchesters sitzen also irgendwo im Nationaltheater, nur nicht im Graben, und werden zugespielt. Das ist arg. Das Klangbild des „Lear“, eine der wildesten, untiefenschärfsten, forderndsten, im Leisen und Lauten bedrängendsten Partituren, wird so zusammengeschoben, nivelliert und, ja, entschärft – so souverän und bemerkenswert selbstverständlich Dirigent Jukka-Pekka Saraste den Koloss auch aufdröselt und entwickelt.

Ein Zwangskompromiss und ein Jammer. Und erkauft auch für eine Premiere vor 700 Gästen in der Bayerischen Staatsoper. Doch das ist das Eine. Was Reimann genossen hätte, das ist sein neuer Held. Christian Gerhaher als in den Abgrund taumelnder König: Diese Besetzung lag irgendwie nahe und in der Logik seiner Karriere als, das mag er nie hören, einziger Thronfolger im Denkerreich des Uraufführungssängers Dietrich Fischer-Dieskau.

Wieder einmal verblüfft Gerhaher, und dieses Mal nicht mit gewohnter Klangsilbenabschmeckung (die gibt’s von ihm im zweiten Teil des Stücks), sondern mit purer Kraft. Für die Entäußerungen Lears, für die Verfluchung der Töchter oder die Heide-Szene, hat sich Gerhaher eine beißende, breite, graue Dramatik zurechtgelegt. Das ist ungeheuer imposant und zugleich so kontrolliert, dass nie vokale Gefährdung hörbar wird. Sogar diese Drastik, typisch Gerhaher, ist nicht Effekt und selbstverliebte Identifikation, sondern bleibt im Dienst von Wort und Phrasenverlauf. Je mehr dieser Lear erlischt, desto filigraner wird Gerhaher. Bis er bei einer Innenschau angelangt ist, die man von seinen Schumann-Liedern kennt.

Dass dieser linkische, hüftsteife, stets irritierte Lear ins Theater Christoph Marthalers passt, ist die zweite Überraschung. Der Schweizer Regisseur geht den umgekehrten Weg Reimanns. Lag dem Komponisten an einer Intensivierung, an einer Übersteigerung des Shakespeare-Dramas, will Marthaler das alles brechen. Mit dem Feinbesteck seines Humors und mit einer seiner bekannten Laborsituationen, in denen Vereinzelte, in sich gefangen und unfähig zu Interaktion, ihre Macken pflegen. Hier tun sie das im Naturkundemuseum, das dank der uneindeutigen Bühnenraumkunst von Anna Viebrock auch ein bisschen aussieht wie eine Kirche. Nachdem der Führer die Besucher hinauskomplimentiert hat, entsteigen die „Lear“-Gestalten in Siebzigerjahreklamotten den Vitrinen. „Nachts im Museum“ also, ein Regie-Einfall, der langsam müffelt.

Der König selbst gibt den Insektenforscher. Das Betrachten und Aufspießen der Käfer, diese lebensecht konservierten Leichen, all das lädt ein zur Reflexion über das Dasein und den Tod. Und letztlich, das führen solche Marthaler-Arrangements glaubhaft vor, ist Wahnsinn ja nichts Abartiges, sondern die Konfrontation zweier Realitäten. Auch wer ver-rückt im Wortsinn ist, glaubt sich im Recht. So wie Lear, der irgendwann seine Anzughose abstreift und sich so frei fühlt wie der Narr mit seinen hochgekrempelten Hosenbeinen. Und was Marthaler auch schafft: Der „Lear“ wird nicht, wie zuletzt von Simon Stone bei den Salzburger Festspielen, verkleinert auf einen Familienzwist à la „Denver Clan“.

Logik und Eindeutigkeit ist im Marthaler-Theater nicht gefragt. Auch sein „Lear“ bleibt offen, assoziativ. Und erschöpft sich mit seinen Endlosschleifen, den Figuren, die in Transportkisten umhergefahren werden, dem Aufseher, der dauernd Rüstungen durch den Raum schiebt, und einem Fahrstuhl, der auch ohne Knopfdruck plötzlich aktiv wird, im bloß Atmosphärischen: Skurriles aus dem Zettelkasten des Marthaler-Kosmos, Szenen zwischen Stil und Masche.

Vor allem aber braucht dieser Ansatz ein starkes Ensemble. Die Staatsoper spendiert sich und dem jubelnden Publikum das bestmögliche: alles Sängerinnen und Sänger mit starker Persönlichkeitsstrahlung, die eigentlich keine Anweisungen für Gesten und Gänge brauchen. Neben Gerhaher ist das Hanna-Elisabeth Müller. Die Cordelia gestaltet sie mit sich zu Raumgröße weitender Lyrik und stupender Sicherheit in Extremlagen. Wenn es einen Belcanto des 20. Jahrhunderts gibt, dann muss er genau so klingen. Georg Nigl bringt als Lears Spiegelbild Gloster einen orpheischen Ton in den Abend. Singen ist bei ihm immer auch verlängertes Sprechen, darstellerisch wirkt er allerdings unterfordert.

Matthias Klink darf als Edmund vokale Heftigkeiten ausleben und tut dies sehr gekonnt. Andrew Watts betreibt eindrückliche Stimmjonglage, rückt seinen Edgar damit in die Nähe des Narren von Graham Valentine. Letzterer ist Dauergast an Marthaler-Abenden und darf auch aus dem Shakespeare-Original zitieren. Ausrine Stundyte (Regan) und Angela Denoke (Goneril) müssen damit leben, dass für das böse Schwesternpaar in diesem Stück nur Biestiges und Exzentrik bleibt. Am Ende ist keine Apokalypse passiert und kein Massentod. Die Figuren dürfen sich dafür wieder in die Vitrinen bequemen, bevor die nächste Besuchergruppe eintrudelt. Als ob man das drei Stunden zuvor nicht geahnt hätte.

Nächste Vorstellungen

am 26., 30. Mai sowie am 3. und 7. Juni.

Internet-Übertragung am 30. Mai, 18 Uhr, unter

staatsoper.de/tv.

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