Gefahren auf Gewässern

von Redaktion

Donna Leon legt heute mit „Flüchtiges Begehren“ ihren 30. Brunetti-Fall vor

VON SIMONE DATTENBERGER

30 Jahre sind es jetzt, seit eine riesige, treue Leserschar eine US-amerikanische Schriftstellerin, die in Venedig lebte, begleitet – und vor allem ihren venezianischen Helden Commissario Guido Brunetti. Sein 30. Fall liegt nun vor: „Flüchtiges Begehren“. Donna Leon (Jahrgang 1942), die mittlerweile hauptsächlich in der Schweiz wohnt, bleibt auch jetzt ihrem erprobten Rezept treu: die Serenissima, schön, korrupt und grausam; Brunettis Familie, harmonisch und wohltuend bildungsbürgerlich; Brunettis Kollegen, hilfreich, komisch oder nervig; Brunetti selbst liebt immer noch seine Frau und Kinder, gutes Essen und die alten Römer – und natürlich das Sich-Hineinbohren in ein Rätsel, das ein Verbrechen sein könnte.

Ein klein wenig hatte sich bereits die Gewichtung bei den Kollegen verschoben, jetzt treten die Frauen noch deutlicher in den Vordergrund. Die Kriminalerin Griffoni, aus Neapel stammend, ist ein Ermittlungsschwergewicht geworden. Und steht dafür, dass man nicht die Nase rümpfen sollte über Süditalien. Brunetti bekommt denn auch einen moralischen Nasenstüber für seine Vorurteile – den die kluge Leon sicherlich auch sich selbst gibt. Sie verschiebt außerdem diesmal den venezianischen Radius über die Lagune hinaus ins offene Meer und die Küste entlang Richtung Jesolo. Kein Wunder, dass Brunetti Unterstützung braucht: von den Carabinieri, sonst gern bespöttelt, diesmal von der bemerkenswerten Offizierin Nieddu aus Sardinen vertreten, und von der Guardia Costiera (Künstenwache), die Capitano Alaimo, wiederum aus Neapel gebürtig, leitet. Das Zusammentreffen von Griffoni und ihm gibt der Schriftstellerin die Chance, eine Art Commedia dell’Arte-Szene über Schlitzohrigkeit aufführen zu lassen.

Trotzdem ist der eigentliche Anlass zu all diesen schwierigen und bürokratisch heiklen Nachforschungen erschütternd. Zwei junge US-Amerikanerinnen wurden nachts klatschnass (im Herbst) und schwer verletzt an der Schiffsanlegestelle des Ospidale Civile (Krankenhaus) abgelegt. Nur durch Zufall wurden sie gerade noch rechtzeitig entdeckt. Die Überwachungskamera zeigt zwei Männer, die mit dem Boot kommen und wieder fahren. Ein anderer Anhaltspunkt ist der Campo Santa Margherita, auf dem sich nachts die jungen Leute zum Feiern treffen – und gern mal Touristinnen abschleppen. Hast du ein Schifferl, ist das ganz leicht. Wer könnte einer Fahrt auf den romantischen Kanälen widerstehen? Aber hinaus auf die stockfinstere Lagune?

Donna Leon lässt en passant zu, dass wir Parallelen ziehen können zwischen den Gefahren auf dunklen Gewässern – da fährt man eben nicht mit starken Scheinwerfern wie über die Autobahn – und den Gefahren, die aus den Abgründen des menschlichen Wesens heraufdrohen. Der Ort, wo die Autorin das verknüpft, ist die Giudecca, die große Insel, die zwischen dem Kern-Venedig und dem Lido-Streifen liegt. Dieses Zwischen-Dasein hat den, milde ausgedrückt, eigenwilligen Menschenschlag der Giudecchini hervorgebracht. Bedeutet: Dort hilft Brunetti bei den Recherchen sogar sein breitestes Veneziano auch nicht wirklich weiter.

Leon hat ja eine Vorliebe für verschlungene Nachforschungen. Damit kann sie die Leser kunstvoll in die Irre führen, mannigfache Geschichten erzählen und viele Facetten Venedigs aufzeigen bis hin zu den Dauerthemen Zerstörung durch Tourismus, Jugendarbeitslosigkeit und Umweltverschmutzung. Hat der so ziemlich über Nacht reich gewordene Giudecchino Pietro Borgato damit zu tun? Schmuggelt er mit seinen extrem stark motorisierten Booten? Betreibt er verbotene Muschelernte? Es kommt viel schlimmer – und geheimnisvoller. Mit Guido Brunetti grübeln wir, was „goldene Boote“ sein könnten, und erfahren von Capitano Alaimo die Tricks, wie man selbst fürs Radar unsichtbare Schiffe lautlos verfolgt und aufspürt. Ein kleiner Trost in meertief trauriger Ausweglosigkeit – die der Realität entspringt.

Donna Leon:

„Flüchtiges Begehren. Commissario Brunettis dreißigster Fall“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich, 314 Seiten; 24 Euro.

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