Vielleicht ist es noch zu früh. Ein Stück über die Nacht vor dem Corona-Lockdown, die Wochen und Monate danach, die Stille, die Einsamkeit, den Tod. Jetzt?
Es gibt viele Definitionen von Kunst. „Zugleich aus dem Leben gegriffen und zugleich typisch – das ist die höchste Kunst“ (Christian Morgenstern). „Kunst kann nicht modern sein; Kunst ist urewig“ (Egon Schiele). „Kunst hat die Aufgabe, wachzuhalten, was für uns Menschen so von Bedeutung und notwendig ist“ (Michelangelo). Allen gemein: Kunst weist über das Jetzt hinaus, ist über die Momentaufnahme hinaus gültig. Genau darin liegt das Problem von „Der Kreis um die Sonne“. Roland Schimmelpfennigs sperrstundengerechte knapp 80 Minuten lange Auftragsarbeit für das Residenztheater, die nun ihre Uraufführung feierte.
Sie ist zu konstruiert, zu sehr auf unser Jetzt hin ausgearbeitet, dass wir in diesem Moment der Noch-Krise keine Erkenntnis darüber hinaus mit nach Hause tragen. Auch wenn nicht ein einziges Mal das Wort Corona fällt, spielt doch jedes „Es war zu eng. Es war zu voll“, jedes „Was verdient man als Krankenpflegerin?“, jedes „Es gibt keine Impfung, es gibt keine Therapie, die wissen nichts, nichts, du hast einfach Glück, oder du hast Pech“ an auf die Pandemie, auf unser derzeitiges Ringen um leistungsgerechte Löhne und Kämpfen für das Leben jedes Einzelnen.
Nora Schlocker hat ihr exzellentes Ensemble, das zu sieben mühelos eine vierzigköpfige Party auf der kahlen Bühne zum Leben erweckt, zwischen Betonwänden positioniert. Kalte Wände. Überdeutlich wird nicht nur im Text, sondern auch in der Inszenierung klar, was die Pandemie einem Brennglas gleich offenbart hat: Unsere (westliche) Gesellschaft ist geprägt von der Vereinzelung, Schere zwischen Arm und Reich, Ausbeutung der noch Ärmeren für noch mehr Reichtum, vom Konsum als goldenes Kalb, Auseinanderdriften zwischen denen da oben und denen da unten. Indem Schimmelpfennig auf dieser apokalypse-artigen Party Menschen aller Einkommensklassen eintanzen lässt (Gastgeber: „Das spielt keine Rolle, hier kennt sowieso keiner keinen – Was zu trinken?, besorgt euch erst mal was zu trinken“), kann er die Unterschiede aufeinanderstoßen lassen. Reizt das aber zu wenig aus; bleibt hängen irgendwo zwischen Kellner und Den-Kellner-Bezahler („Noch bist du unten, noch bist du der Mann mit dem Tablett, aber irgendwann bist du vielleicht mal ganz oben!“) und der 71-jährigen philosophierenden pensionierten Professorin, die dem jungen Kinokarten-Abreißer die mythologische Monster-Welt erklärt.
Als Zuschauerin möchte man nicht wahrhaben, dass das unsere neue Wirklichkeit ist. Dass wir zusammenzucken, wenn Veronika hustet und dem anderen Gast ihre Stirn entgegenreckt: „Nein, Fieber habe ich nicht – obwohl, ich weiß nicht, fühl mal, fühlen Sie mal, vielleicht habe ich ja Fieber.“ Wenn Schimmelpfennig uns mit dieser phrasendreschenden Party-Meute einen Spiegel vorhalten möchte, erreicht er im Moment des Gerade-Erwachsens aus dem alles andere als märchenhaften Dornröschenschlaf das genaue Gegenteil: statt Mitleid zu empfinden für die reiche Gastgeberin, die sich stets neben dem Kühlschrank positioniert – nahe der Alkoholquelle –, sehnt man sich danach, wieder mal selbst genau dort zu stehen. Zu jammern, dass es zu voll, zu eng, zu chaotisch ist. Haben wir etwas aus der Pandemie gelernt? Schimmelpfennig möchte vermitteln: bitte, ja. Die Wirklichkeit könnte eine andere sein.
Nächste Vorstellungen
am 13., 18. und 19. Juni. Telefon 089/21 85 19 40.