Das goldene Jahr

von Redaktion

1971 erlebte die Popmusik eine Zeitenwende, die bis in die Gegenwart nachwirkt

VON JOHANNES LÖHR

An Silvester des Jahres 1970 reicht Paul McCartney Klage ein, um die Partnerschaft der Beatles auch juristisch aufzulösen. Ein Federstrich wie ein Symbol: Spätestens an diesem Tag enden die Sechzigerjahre als popkulturelle Ära. Das Jahrzehnt, das folgt, wird eines der Superlative sein – und 1971 sein herausragendes Jahr. Diese These vertritt der britische Musikjournalist David Hepworth in seinem Buch „1971 – Never a dull Moment: Rock’s golden Year“. Der Abosender Apple TV widmet dem Thema derzeit eine achtteilige Doku-Serie.

Tatsächlich wirken die Ereignisse von 1971 bis heute nach. Was macht ein Jahr so besonders, dass man es noch ein halbes Jahrhundert später als Zeitenwende betrachtet? Dafür muss viel zusammenkommen.

Wo sind die neuen Beatles?

Die Fab Four haben abgedankt – Lennon und McCartney schießen 1971 auf ihren Solo-Platten Giftpfeile in Liedform aufeinander ab. Spätestens da begreifen die Manager der Plattenfirmen, dass Ersatz her muss. Man investiert in unzählige Neulinge – auch in solche, denen nach den alten Maßstäben kaum kommerzieller Erfolg winkt.

Bands wie Yes wollen mit klassischen Komponisten verglichen werden und pflügen sich durch halsbrecherische Partituren. „The Yes Album“ nehmen sie in kleinen Abschnitten auf, teilweise nur 30 Sekunden lang. Nachdem die Toningenieure mit geradezu mönchischer Hingabe ein Lied aus den Band-Schnipseln zusammengeklebt haben, schnaufen die Musiker einmal kurz durch – und lernen erst jetzt, von der fertigen Aufnahme, es als Ganzes zu spielen. Dieser Ansatz stellt alles Dagewesene auf den Kopf.

Der erste Bestseller der Popmusik

Pop wird 1971 also erwachsen – nichts zeigt das so sehr wie die Karriere von Carole King. Sie hat bereits 13 Jahre im Business auf dem Buckel, hat Teenager-Dramen wie „The Locomotion“ oder „Will you love me tomorrow“ für andere geschrieben. Doch die 28-Jährige ist komplett unglamourös, kokettiert, sie sei im Herzen eine mittelalte jüdische Lady aus Brooklyn, die gerne Wandteppiche knüpft – englisch: „Tapestry“.

So heißt auch ihr Album, die Song-Sammlung einer gestandenen Frau: selbstbewusst, verletzlich, fröhlich. „Tapestry“, für 22 000 Dollar an fünf Tagen aufgenommen, verkauft sich pro Woche 150 000 Mal. Die unaufgeregte Große-Schwester-Stimme liegt auf einer Wellenlänge mit jenen Babyboomern, die nun nicht mehr die Welt verändern, sondern mit ihr klarkommen wollen. Für die Musikindustrie setzen die 25 Millionen verkauften Exemplare dieses Pop-Bestsellers die Maßstäbe, die es zu erreichen gilt – Kunden sind nicht mehr nur Jugendliche, sondern zunehmend auch „mittelalte Ladys“. Gut für die Künstler: Bei ihnen kommt nun viel mehr Geld an, dank satter Vorschüsse. Die Rockstar-Dekadenz von Eagles, Led Zeppelin und Co. kann kommen…

Die Ohnmacht                  der Bosse

Mit dem neuen Selbstbewusstsein schwindet der Einfluss der Plattenbosse – es ist ein bisschen wie mit New Hollywood, wo Filmemacher wie Warren Beatty, William Friedkin und Peter Bogdanovich den Einfluss der Studios unterlaufen. 1971 haben Streifen wie „The French Connection“ und „The Last Picture Show“ Erfolg – obwohl sie nicht den alten Mustern des Krimis, der Western oder Sozialdramas folgen.

Nicht mehr auf der Höhe der Zeit sein – da muss auch Berry Gordy durch. Der Chef von Motown-Records hat sein Unternehmen mit strenger Hand durch die Sechziger geführt und stromlinienförmige Supergruppen wie die Supremes auf artig getrimmt, sodass die schwarze Musik auch einem weißen Publikum gefiel. Doch die Belegschaft muckt auf – vor allem der Sänger Marvin Gaye, Gordys Schwiegersohn.

Der Schönling will, aufgewühlt von der Heimkehr seines Bruders aus Vietnam, Musik machen, die etwas bedeutet. Will die brodelnden sozialen Unruhen und die Unterdrückung der Afroamerikaner thematisieren. Und das alles in einer sanft groovenden, Jazz-angehauchten Ballade. Widerwillig winkt Gordy die Single „What’s going on“ durch – und nach deren Mega-Erfolg auch die gleichnamige LP. Sie wird zum Klassiker, der seither Proteste begleitet und noch heute auf „Black Lives matter“-Demos zu hören ist.

Der Rockstar erklimmt die höhere Gesellschaft

Wenn einer nicht an mangelndem Selbstbewusstsein leidet, dann Mick Jagger. Der vormalige BWL-Student ist nicht nur der Einzige der Rolling Stones, der in Geschäftsmeetings aufpasst und die Band dazu drängt, 1971 nach Frankreich zu ziehen, um Steuern zu sparen – er hat auch ein Händchen dafür, die Stones zur Marke zu machen, die noch 50 Jahre später zieht. Man gründet eine eigene Plattenfirma, ihr Zeichen: eine herausgestreckte Zunge. Kein Geringerer als Andy Warhol designt die Hülle der neuen Platte „Sticky Fingers“.

Jagger ist es auch, der den Rock’n’Roll endgültig als Abteilung der High Society etabliert. Am 12. Mai 1971 heiratet er Bianca Pérez-Mora Macias in St. Tropez – ein gesellschaftliches Event ohnegleichen und Blaupause für turbulente Promi-Verbindungen bis heute.

Unbeschreiblich           weiblich

Die weibliche Seite des Pop kommt nicht nur in der eher biederen Carole King zur Geltung. Song-Heroinen wie Joni Mitchell und Carly Simon zeigen sich in ihrer Musik und im echten Leben weitaus freizügiger – in der bislang eher von männlichen Rockern besetzten Rolle der sexuellen Raubkatze. In Simons Hit „You’re so vain“ ätzt sie gegen den Typen, mit dem sie gerade was hatte: Er sei wohl so eitel zu glauben, dieser Song sei über ihn. James Taylor und Mick Jagger, die im Chor mitsingen, dürfen sich angesprochen fühlen – und Bianca Jagger sich fragen, was ihr frischgebackener Gatte in seiner Freizeit so treibt.

Gleichzeitig entdecken 1971 auch Popsänger ihr androgynes Ich – Glamrock ist geboren. David Bowie singt im Pelzmantel und mit viel Make-Up über das Leben auf dem Mars, Marc Bolan trällert mit seiner Band T Rex nun nicht mehr wie ein Hippie, sondern schmiedet Plateauschuh-Stampfer wie „Hot Love“. Pop wird stilistisch wie geschlechtlich divers.

Die Erfindung des Formatradios

In der Hippie-Zeit legten Rock-DJs im Radio schon mal den Song „Parthenogenesis“ von Canned Heat in seiner ganzen 20-Minuten-Pracht auf, um in Ruhe vor der Tür einen Joint durchziehen zu können. Ans Publikum dachten sie dabei eher nicht. Lee Abrams dagegen tut nichts anderes – und erfindet so das Formatradio, das bis heute den Äther dominiert. Beim US-Sender WPTF hat er 1971 das Motto: „Vertraute Musik funktioniert.“ Er verlässt sich nicht auf DJs, sondern befragt die Hörer, was ihnen gefallen hat. Das und nur das hat die Chance, erneut ins Programm zu kommen. Sein Beispiel macht schnell Schule – ein Grundstein für den Erfolg der kantenlosen Rock-Platten von Fleetwood Mac und anderen Bands Mitte des Jahrzehnts. AOR, „Adult oriented Rock“ (Rock für Erwachsene) ist geboren. Die vormalige Musik der Gegenkultur wird zum Mainstream.

Zukunftsweisende Technologie

Einen Synthesizer kann 1971 nur eine Handvoll Musiker bedienen. Einer davon ist Pete Townshend von The Who, der ihn effektiv an den Anfang der LP „Who’s next“ stellt. Dass eine Maschine den Rhythmus vorgibt, ist bis dato neu – und wird bald noch deutlich radikaler umgesetzt. Die deutsche Band Kraftwerk steht bereits in den Startlöchern.

Ein nostalgischer Rückblick

Das Jahr 1971 ist aber auch das erste, in dem der Rock’n’Roll wehmütig zurückblickt. Don McLean singt „American Pie“ über den Tag anno 1959, an dem Buddy Holly starb – „the Day, the Music died“. Er landet einen internationalen Hit. Derweil checkt Elvis Presley im für einen Rockmusiker biblischen Alter von 36 Jahren in Las Vegas ein und führt dort seine alten Hits auf. Es ist der Beginn der nostalgischen Entertainment-Industrie, wie wir sie heute kennen. „Am Ende jubeln und applaudieren die Leute“, berichtet der Kritiker Jon Landau über ein Elvis-Konzert von 1971. „Aber sie erheben sich währenddessen nicht ein Mal aus ihren Sitzen.“ Er hat die Zukunft des Rock’n’Roll gesehen.

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