Das Unsagbare der Sprache

von Redaktion

NACHRUF Schriftstellerin Friederike Mayröcker mit 96 Jahren in Wien verstorben

VON ALEXANDER ALTMANN

Jetzt ist es zu spät für den Literatur-Nobelpreis, den sie fraglos verdient gehabt hätte: Mit Friederike Mayröcker ist am Freitag in Wien eine Schriftstellerin gestorben, die zu den größten unserer Zeit gehörte. Sie wurde 96 Jahre alt. Dabei hat die Mayröcker eigentlich immer nur über sich geschrieben. Vor allem über ihre Erinnerungen, die gelegentlich so privat sind, dass der Leser allenfalls ahnt, was gemeint sein könnte.

Aber in dieser Konzentration aufs Subjektivste erschuf die Mayröcker allgemeingültigste, weltenöffnende Literatur: Literatur, die uns unmittelbar etwas angeht, weil sie im Scheitern der Sprache, durch ihre Risse, Bruchstellen, Fehler hindurch, das Unsagbare aufscheinen lässt. Insofern wirkt es nur folgerichtig, dass Friederike Mayröcker Satzzeichen meist genau da setzte, wo sie nicht hingehören. Und selbst das mittlerweile abgeschaffte „daß“ war ihr viel zu konventionell, weshalb sie konsequent „dasz“ schrieb. Denn diese sperrige und zugleich traumzarte Eigen-Orthografie bricht nicht nur das allzu Geläufige auf, sondern ist auch noch ein betörender Affront gegen die Sinn-Zwänge jedes Regelwerks.

Ihrer Heimat Wien, wo sie 1924 als Tochter eines Schuldirektors und einer Puppenmacherin geboren wurde, ist diese Lyrikerin, Prosa- und Hörspielautorin ein Leben lang treu geblieben – über Jahrzehnte hinweg gemeinsam mit ihrem Partner, dem Dichter Ernst Jandl. Legendär sind die Fotos von Mayröckers Wohnung, einer Art Tropfsteinhöhle aus Papier-, Bücher-, Kleider- und sonstigen Stapeln, einem gigantischen undurchdringlich-labyrinthischen „Verhau“, einem über Jahrzehnte gewachsenen, immer weiter zugewachsenen Behausungs-Organismus, in dem sich Schicht um Schicht die Sedimente eines Dichterlebens ablagerten, kurzum: ein hochfragiles Dornröschenschloss des Ichs, ein Kokon, der wie eine Materialisierung der Mayröcker’schen Poetik erscheint, wie eine Verbildlichung des Gespinstes aus Reminiszenzen und Überblendungen, das sie schreibend erschuf.

Assoziationen, Gedanken, Empfindungen, Eindrücke, aber eben vor allem Erinnerungen, oft auch an die Kindheit, ließ diese echte Poetin nahtlos ineinanderfließen und immer wieder zu beiläufigen Privat-Epiphanien aufrauschen: „an jenem Tage als ein Mann den Mond betrat schlief ich in einer Wiese mit einem Mann.“ Vergänglichkeit und Wehmut, die da gleichsam hymnisch hochflackern, waren stets zentrale Themen bei Friederike Mayröcker: „…einsam bin ich mein Kamerad eine alte Hündin, ich Debütantin des Todes, steinig mein letzter Weg wohin sind Mutter und Vater und Freund usw.“, notierte sie im Alter von 94 Jahren.

Das melodisch mäandernde Murmeln der Mayröcker-Prosa, ihr symphonisch sirrendes Stammeln und Stolpern – all diese radikalen Regelverletzungen und Normabweichungen waren nie als Provokation gedacht, sondern ergaben sich mit innerer Notwendigkeit. Denn die Dichterin wusste immer schon, dass „der wahre Schriftsteller 1 Mensch ist, der seine Worte nicht findet“, wie es in ihrem Prosaband „brütt oder Die seufzenden Gärten“ heißt. Und insofern handeln eigentlich alle ihre Bücher von der Unmöglichkeit, die Realität, die Welt oder einfach das Wesentliche in Sprache zu fassen.

An deren Grenzen aber tastete sich die Mayröcker stetig entlang, und gerade indem sie die Unzulänglichkeit der Worte dadurch ausstellte, ins Licht rückte, eröffnete sie eine Ahnung des Zulänglichen. Denn jede Grenze ist zugleich die Gewissheit, „dasz“ es noch etwas anderes gibt, eben das, was jenseits der Grenze liegt. Jetzt hat Friederike Mayröcker diese Grenze endgültig überschritten.

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