Zurücktasten in den Alltag

von Redaktion

Neustart vor Publikum: Andris Nelsons dirigiert nach langer Zeit wieder das BR-Symphonieorchester

VON MARKUS THIEL

Irgendwann kommt auch der prominenteste Nachzügler ins Ziel. In diesem Fall das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das sich nach Staats- und Stadttheatern plus innerstädtischer philharmonischer Konkurrenz erstmals wieder vor Publikum präsentierte. Und dann auch noch mit einem sportlichen Programm – mit fünf 90-minütigen Konzerten an drei Tagen.

Was zwei Fragen aufwirft: Ob man mit dieser Häufigkeit (längst nicht alle der jeweils knapp 700 Karten im Gasteig gingen weg) zu optimistisch war? Und ob’s für den Neustart nicht doch ein positiveres, optimistischeres, populäreres Werk gebraucht hätte als die gründelnde, wie unter einem Deckel schleichende Emotionalität von Schostakowitschs zweitem Violinkonzert?

Mit Solistin Baiba Skride tastete sich das Ensemble förmlich in den Alltag zurück. Zum Werk passt, dass die Lettin keine Virtuosen-Attitüde braucht. Der Mittelsatz geriet zur schlichten, nie gefühligen Meditation, im Finale entfaltete sich eine trockene Motorik. Die Präsenz von Baiba Skrides Spiel auch im unteren Dezibelbereich, diese schmucklosen, energiereichen, nie nur geraunten Piano-Passagen des ersten Satzes, all das wirkte wie eine Partitur-Entblätterung für Puristen.

Dirigent Andris Nelsons war ihr dabei ein vorsichtig dosierender Partner. Und einer, der die vielen klangschönen Angebote aus dem Orchester kollegial aufnahm: Solo-Konzert, das bezieht sich ja in diesem Werk-Fall auch auf die Wortmeldungen von Fagott, Flöte und Horn. Für Nelsons war dies ein Zurücktasten an eine einstige wichtige Wirkungsstätte. Seine entscheidenden Karriere-Impulse empfing der jetzt 42-jährige Lette vom Mentor Mariss Jansons, dem 2019 verstorbenen Chefdirigenten des BR-Symphonieorchesters. Nach vielen Dirigaten dort trat eine Funkstille ein – woran, so ist zu hören, nicht unbedingt das weiterhin an Nelsons interessierte Ensemble schuld war.

Die Irritationen sind offenkundig ausgeräumt. Und vor allem Schostakowitschs neunte Symphonie führte vor, wie wohl sich dieser Dirigent am Pult des Edel-Ensembles fühlt. Ab dem zweiten Satz schien da ein Knoten geplatzt, und Nelsons, der wesentlich ruhiger, gesetzter, auch etwas scheuer als früher agiert, ging aus sich heraus. Viel forscher, angriffslustiger, geschärfter war diese halbe Stunde als kürzlich noch bei Valery Gergiev und seinen Münchner Philharmonikern. Das Grelle, auch Lärmende wurde beherzt ausgestellt. Und dass im ersten Durchgang am frühen Donnerstagabend nicht alle Anschlüsse im Kopfsatz klappten, ist auf die Aufstellung zurückzuführen: Gerade für ein blitzendes, pointenreiches, karikierendes Stück wie die Neunte braucht es einfach die kompaktere Sitzordnung der Vor-Corona-Zeit.

Nelsons soll bald zurückkehren zum BR. Und für den nächsten Gastdirigenten John Eliot Gardiner fährt das Orchester Mitte Juni sein Angebot zurück: Wie es heißt, habe der 78-Jährige ohnehin darum gebeten, nur ein Konzert pro Tag leiten zu müssen.

Weiteres Konzert

an diesem Samstag, 19 Uhr; Karten unter www.br-so.de.

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