Die Menschen halten’s aus

von Redaktion

PREMIERENKRITIK Calixto Bieito inszenierte „Dekalog“ fürs Residenztheater

VON ULRIKE FRICK

Mit seiner TV-Serie „Dekalog“ hinterfragte der Filmemacher Krzysztof Kieslowski 1988/1989 für das polnische Fernsehen in einstündigen Episoden die Bedeutung der Zehn Gebote für das Alltagsleben des modernen Menschen. Kieslowski und seinem Drehbuchautor Krzysztof Piesiewicz ging es dabei weniger um eine religiöse Debatte als vielmehr um den Stellenwert ethischer Grundsätze in einem erzkatholischen Land, dessen zweite Glaubensgrundlage, der Sozialismus, sich gerade in Wohlgefallen auflöste.

Kieslowskis extrem verdichtete Bestandsaufnahme fiel ernüchternd aus. Das vielfach preisgekrönte und als cineastischer Meilenstein geltende Projekt machte den Regisseur über Nacht international bekannt. Dank seiner dokumentarischen Genauigkeit und seines lakonischen Blicks ist Kieslowskis „Dekalog“ weit mehr als ein drastisches Lehrstück, das einen biblischen Stoff aus rein säkularer Sicht erzählt.

Sieht man sich das gut zehnstündige Werk aber heute an, erkennt man doch deutlich die Zuspitzung auf die politischen Verhältnisse der Zeit, die enge Verschränkung von persönlichen Tragödien mit dem erodierenden Staat. Möchte man diese fraglos existenziellen Gedanken zu katholischer Beklemmung und Verantwortlichkeit jedes Einzelnen heute auf die Bühne bringen, müsste zuerst einmal eine Möglichkeit gefunden werden, die damaligen Verhältnisse für die Gegenwart zu adaptieren. Die Frage danach, was richtig und falsch ist, hat zweifellos nichts an Aktualität verloren.

Doch unverständlicherweise hält sich der spanische Regisseur Calixto Bieito, dank seiner großartig wüsten, provokanten Operninszenierungen als Skandalnudel des Regietheaters bekannt, diesmal stark zurück. Er verharrt vielmehr in einem seltsam luftleeren Raum, der mit zunehmendem Verlauf des 130-minütigen, pausenlosen Abends immer mehr zur aseptischen und dadurch leider auch diffus beliebigen Versuchsanordnung wird.

Ungewohnt zurückhaltend sind schon die Kostüme. Ingo Krügler kleidet das große und ausnahmslos großartige Ensemble in unauffällige Alltagskleidung, die in ihrer Zeitlosigkeit im Warschauer Plattenbau der späten Achtzigerjahre ebenso tragbar war wie heute in der Münchner Fußgängerzone. Unspektakuläre Farben wie Beige, Olivgrün oder Braun herrschen in verschiedenen Schattierungen vor. Man begreift schnell: Um eine Allgemeingültigkeit der erarbeiteten Thesen geht’s also.

Fortan arbeitet sich Bieito brav und sorgsam an den Zehn Geboten ab – und an ihrer wuchtigen Wirkung auf die Einzelnen. Die Menschen halten’s aus, das ganze Leid, den Betrug, den Ehebruch, den Tod, das Sterben und das Lügen und Streiten. Manche dieser Mini-Dramen funktionieren in der extremen Reduzierung hervorragend. Manche weniger.

Die Gesetzestafeln, die Moses vom Berg Sinai herunterschleppte, fingen bekanntlich an mit „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“. Und so folgt auch auf der Bühne des Residenztheaters die erbarmungslose Strafe auf den nur wissenschaftsgläubigen Vater (Michael Wächter) des kleinen Pawel. Der Sohn bricht trotz aller computergestützten Berechnungen des Vaters im Eis ein und stirbt.

Michael Wächter beschert dem Publikum mit unprätentiösem, klarem Spiel einen ersten intensiven Moment. Weitere folgen, etwa wenn die eiswürfelkalte, promiske Magda (Myriam Schröder) und der namenlose junge Mann (Noah Saavedra) aufeinandertreffen. Oder wenn sich Stiefvater (Robert Dölle) und erwachsene Tochter (Linda Blümchen) ihre von Inzestscham verschatteten Gefühle offenbaren. Dann wird in kurzen Momenten spürbar, wie sie hätte aussehen können, diese Übertragung von Kieslowskis Überlegungen in eine diverse, disparate und zunehmend dysfunktionale Gegenwart.

Nächste Vorstellungen

am 12. und 26. Juni;

Telefon 089/21 85 19 40.

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