Neun von elf Opernpremieren mit Stücken aus dem 20. und 21. Jahrhundert, das ist eine Ansage. Auch sonst wird sich viel ändern, wenn Serge Dorny im Herbst sein Amt als Intendant der Bayerischen Staatsoper antritt. Der 59-Jährige war bisher Chef der Oper in Lyon, die der gebürtige Belgier zu internationaler Bedeutung verhalf. Seine Karriere begann er im Team des legendären Theatermachers Gerard Mortier.
Kulinariker könnten angesichts dieser Saison aufstöhnen, weil sie Mozart-, Verdi- oder Wagner-Premieren vermissen. Was entgegnen Sie?
Es gibt keinen Grund aufzustöhnen. Die Staatsoper ist in der glücklichen Lage, über ein gut bestücktes Repertoire zu verfügen und somit jede Saison eine breite Palette von Opern anbieten zu können. Dies bietet Perspektiven für neue Produktionen, die dem Repertoire Farben hinzufügen und es noch weiter verbreitern. „Peter Grimes“ beispielsweise, eines der Meisterstücke des 20. Jahrhunderts, hatte 1991 seine letzte Premiere an der Bayerischen Staatsoper – mit René Kollo in der Titelrolle. Ich halte den Anfang des 20. Jahrhunderts für eine äußerst interessante und vielfältige Zeit. Und das nicht nur musikalisch. Viele Komponisten ließen sich von großen literarischen Werken inspirieren oder arbeiteten mit bedeutenden Schriftstellern.
Die erste Premiere eines Intendanten ist immer eine Visitenkarte. Was wollen Sie Ihrem neuen Publikum mit einer grotesken, gerade mal zweistündigen Satire wie Schostakowitschs „Nase“ sagen?
Ich möchte jede Saison unter ein Motto stellen. In der ersten ist es ein Zitat des ungarischen Schriftstellers Dezsö Kosztolányi: „Jeder Mensch ein Meisterwerk. Jeder Mensch ein König.“ Es geht also um die Unterschiede, die eine Gesellschaft ausmachen, und das zieht sich durch alle Premieren. Wir haben oft Schwierigkeiten mit jenen, die anders sind als wir. Dabei sind die Gegensätze das Bereichernde. Schostakowitschs Oper dreht sich genau darum: Ein Mensch ohne Nase verliert einen Teil seiner Identität. Identität ist allerdings enorm wichtig geworden in unserer Gesellschaft, denn sie spiegelt den persönlichen Status wider. Wir sind sehr beschäftigt mit uns selbst: Wer oder was sind wir? Wie sehen wir aus? „Die Nase“ ist musikalisch hochinteressant, aber eben auch thematisch.
Viele Stücke Ihrer ersten Saison sind hier lange nicht gespielt worden. Dazu kommen Regisseure wie Kirill Serebrennikow oder Stefan Herheim, die sehr angesagt sind, in München aber debütieren. Hinkt die Staatsoper der Entwicklung hinterher?
Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Mozart, Strauss und Wagner sind hier unheimlich gut aufgestellt. Aber die großen Werke Rossinis, Janáčeks oder Brittens sind eigentlich weniger präsent. Es gibt also Möglichkeiten, neue Akzente zu setzen.
Wird das Publikum in der Konzentration auf die Hits manchmal unterschätzt?
Es gibt in München ein extrem neugieriges Publikum. Es ist ästhetisch sehr offen, wenn Sie sich die theatralen Handschriften der vergangenen Jahrzehnte anschauen. Ich unterschätze das Publikum nicht. Deshalb bieten wir eine Vielfalt von Möglichkeiten an. Natürlich gibt es Kontinuitäten, nehmen wir etwa die Rückkehr von Barrie Kosky. Wir wollen auch neue Regisseure vorstellen mit Anna-Sophie Mahler, Marie-Eve Signeyrole, David Marton oder Christophe Honoré. Ich versuche, eine Vielfalt an Handschriften zu zeigen.
Fast alle Premieren sind Koproduktionen, unter anderem mit Moskau und Sydney. Können Sie nur deshalb, auch aus finanziellen Gründen, so viele herausbringen?
Wir zeigen Produktionen, auch in künftigen Spielzeiten, die mittel- bis längerfristig ins Repertoire übernommen werden sollen. Andere werden eine kürzere Lebensdauer haben. Stücke wie Pendereckis „Die Teufel von Loudun“ sind Meisterwerke, und wir haben die Verantwortung, ihnen ein weiteres Bühnenleben und immer wieder ein neues Sehen und Hören zu ermöglichen. Deshalb auch Koproduktionen, weil sie für eine weitere Verbreitung sorgen. Es ist, wenn Sie so wollen, eine Frage der Nachhaltigkeit.
Sie haben das Glück, dass Sie im September beginnen, wenn – so ist zu hoffen – das Schlimmste der Corona-Zeit überstanden ist. Haben Sie trotzdem Angst, dass Ihre großen Pläne an schrumpfenden Kultur-Etats scheitern?
Bayern ist doch ein Kulturstaat, das steht sogar in der Verfassung.
Davon war in den vergangenen Monaten manchmal nichts zu merken. Es wird wohl weniger Geld zur Verfügung stehen.
Dem Kunstministerium ist bekannt, was wir in den kommenden Jahren vorhaben. Ich gehe davon aus, dass dies auch finanziell unterstützt wird. So wurde es mir zugesichert. Koproduktionen sorgen eben auch finanziell dafür, dass unsere Pläne verwirklicht werden können.
Wird es bei dieser großen Anzahl der Premieren, bei dieser Symphonie mit elf Paukenschlägen bleiben?
In der Saison drauf gibt es eine Symphonie mit zehn Paukenschlägen. Wir werden versuchen, jede Saison zehn oder elf Opern-Premieren zu zeigen. Außerdem versuchen wir, auch im Repertoire hochinteressante Besetzungen und Dirigenten zu bringen. Ich will mich um das Repertoire genauso wie um die Premieren kümmern. Jede Vorstellung muss als Notwendigkeit betrachtet werden. Ganz allgemein gesagt: Theater ist eine absolute Notwendigkeit in unserer Gesellschaft. Es bringt die Menschen immer wieder zusammen. Wir verbringen viel Zeit in Sozialen Netzwerken und vor den Computern, aber unserer Gesellschaft fehlt es an Orten, an denen man sich treffen und versammeln kann.
Vor zwei Jahren meinten Sie, Sie müssten erst das Münchner Kulturleben und seine Akteure näher kennenlernen. Wie stellt sich das Biotop nun für Sie dar?
Mir war immer klar, wie reichhaltig das Kulturleben hier ist. Mittlerweile habe ich viele Akteure getroffen, von den Museen über die Theater bis zur Theaterakademie. Von den Orchestern bis zur Filmhochschule. Ich habe tolle, offene und sehr interessierte Menschen kennengelernt. In diesen unglaublichen Kulturkosmos möchte ich ein eigenes neues Momentum setzen, indem ich einige Dinge neu organisiere oder in neue Zusammenhänge stelle. Es wird Kollaborationen mit Schauspielhäusern und anderen Instituten geben. Die Bayerische Staatsoper wird kein Primus, sondern ein Unus inter pares sein – und ein Katalysator.
Was ist an Ansbach so wichtig, dass Sie dort mit „Oper für alle“ Ihre erste Spielzeit beginnen?
Wir sind die Bayerische Staatsoper, somit nicht exklusiv für die Münchner da. Die Idee ist, das Septemberfest jedes Jahr an einem anderen Ort starten zu lassen. Das kann auch mal München sein, mal Landshut. Ich frage mich einfach, wie wir uns in der Stadtgesellschaft, aber auch in den Regionen anders präsentieren können.
Wenn Sie Ihren Beginn in Lyon mit dem in München vergleichen: Wie unterscheiden sich diese beiden Momente für Sie? In Lyon haben Sie Aufbauarbeit geleistet. Und hier?
Die Oper in Lyon und die Bayerische Staatsoper kann man nicht vergleichen. München ist für mich ein anderes Kapitel. Die Staatsoper ist ein Spitzenhaus. Das Interessante für mich wird eine Neubefragung sein. Das Haus hat zu Recht sehr starke Wurzeln. Aber vielleicht schnallen wir uns Flügel um und fliegen in Richtungen, an die man vorher gar nicht dachte. Wir müssen das Publikum immer wieder begeistern und überraschen.
Das Gespräch führte Markus Thiel