Im Auktionshaus Ketterer Kunst kommt am 18. Juni in München-Riem ein Sensationsfund unter den Hammer: „Gebogene Spitzen“ von Wassily Kandinsky galt als verschollen. Kürzlich tauchte das Aquarell – Schätzpreis 300 000 Euro – auf. Es stammt aus dem Nachlass eines rheinländischen Sammlers. Ab diesen Samstag kann es vorbesichtigt werden. Wir sprachen mit Robert Ketterer über den Kandinsky-Krimi.
Ein Bild ist seit 70 Jahren verschollen. Das klingt für Laien ungewöhnlich – ist es das denn?
Gerade für einen Künstler wie Kandinsky, dessen Person und Werk international so erforscht sind, ist es außergewöhnlich, dass eine seiner Arbeiten völlig unbekannt ist. Das kennen wir bisher nur, wenn ein Werk nie ausgestellt wurde oder den Besitzer wechselte, es also irgendwo schlummerte. Der Besitzer weiß, was er da hat, und das reicht ihm auch. Den Rest der Welt geht es auf gut Deutsch nix an.
Wie ist man in diesem Fall darauf gestoßen?
Das Bild kam durch Erbschaft an die Oberfläche. Wenn der Besitzer es nun in eine Galerie gegeben hätte oder in den Kunsthandel, dann wäre es unter Umständen an den nächsten verkauft worden, und keiner hätte davon gewusst. Zum Glück kam es anders. Wir arbeiten sehr transparent: Ein Werk, das zu uns ins Haus kommt, wird sofort ausführlich dokumentiert. Wir betrachten es zudem als unsere Aufgabe, alles über die Objekte herauszufinden, jeden Hintergrund. Auch für den nächsten Käufer, damit er weiß, was er erwirbt.
Sie begannen mit der Recherche und haben zunächst nichts gefunden?
Genau. Wir konnten die Arbeit zwar als einen kleinen Eintrag im Werkverzeichnis finden, doch galt sie als verschollen, und niemand hatte jemals ein Foto von ihr gesehen. Man wusste nur: Es muss einmal ein Kandinsky-Werk mit dem Titel „Gebogene Spitzen“ gegeben haben. Aber niemand wusste bis vor wenigen Wochen, wie es aussieht, geschweige denn, ob es das Werk überhaupt noch gibt und wo es heute ist. Man muss dazu sagen: Wir bekommen viel angeboten, auch Kandinsky-Aquarelle, die oft nicht in Ordnung sind.
Das heißt: gefälscht?
Ja. In dem Fall war uns aber frühzeitig klar, dass die Arbeit echt sein könnte, unter anderem weil auch der Rest der Sammlung gestimmt hat. Das Aquarell selbst war von sehr guter Qualität. Dann begann unsere Intensivrecherche. Am Anfang lief das zäh, denn im Werkverzeichnis war ja keine Abbildung zu finden. Das war merkwürdig. Fachleute sind generell erst mal misstrauisch. Es gehört bei uns zum Standard, alles zu hinterfragen. Jedes Objekt sehen wir zunächst als Fälschung an. Solange, bis wir das Gegenteil beweisen können.
Und im konkreten Fall?
Tatsächlich haben wir dann etwas gefunden, wonach wir gar nicht gesucht hatten. Im Werkverzeichnis haben wir nach einem Aquarell gefahndet – und eine Zeichnung gefunden. Das erklärt sich so: Kandinsky hatte eine kleine Handskizze jenes Aquarells gefertigt, bevor er es in den 40ern in die Obhut des Kunsthändlers Probst gab. Das hat er öfter gemacht, um sich daran zu erinnern, wo er welches Bild hingegeben hatte. Und genau diese Zeichnung ist im Werkverzeichnis zu finden. Die zweite Spur der Verifizierung: Man weiß, dass Kandinsky seine Handskizzen durchnummeriert hatte. „Gebogene Spitzen“ war Nummer 240. Auf dem alten Unterlagekarton unseres Aquarells fanden wir schließlich nicht nur Titel und Datierung, sondern auch diese Nummer „240“ – alles in der Handschrift des Künstlers. Da schloss sich dann der Kreis.
Wie lange dauert so ein Prozess vom ersten Kontakt des Verkäufers bis zur erfolgreichen Prüfung?
Das sind hunderte Stunden, viele Tage und auch Nächte. Man muss viel Korrespondenz leisten, unzählige Telefonate führen, auch international. Wir arbeiten mit Kunstexperten und parallel dazu mit Naturwissenschaftlern. Letztere analysieren die Pigmente, das Papier, die Leinwand zum Beispiel darauf, ob es die Materialien zur angegebenen Entstehungszeit überhaupt schon gab. Dann suchen wir nach Quellen: War das Werk schon in einer Ausstellung? Ist es irgendwo abgebildet? Kennt man seine Historie? Wo wurde es wann wie an wen weitergegeben? So kommt ein Mosaikteilchen zum anderen und ergibt am Ende die Wahrheit über ein Werk.
Was haben Sie erfahren?
Das Werk stammt aus Kandinskys wohl wichtigster Zeit am Bauhaus. Die „Gebogenen Spitzen“ zeigen die Linie, die Kraft im Raum. Das war für ihn ein ganz wichtiges Thema. Man erkennt, wie sorgfältig er jede Linie gezogen hat, nachaquarelliert hat. Da stimmt jedes Detail. Übrigens: Die Qualität des Werkes spricht dafür, dass es bei den bisherigen Besitzern in einer Schublade lag, zum Glück! Bei Aquarellen reichen ja oft wenige Wochen in der Sonne, um die Farben verblassen zu lassen.
Wusste die Familie um das Besondere des Werks?
Sie wussten, dass sie einen Kandinsky besitzen – oder nahmen es an. Dass aber selbst renommiertesten Kunsthistoriker nichts von der Existenz ahnten, ihn nie gesehen hatten, war ihnen nicht klar.
Eine solche Geschichte kommt auch bei Ihnen selten vor.
Ja. Wir haben es jährlich mit tausenden Kunstwerken zu tun. In aller Regel ist die Kunstgeschichte sehr informiert und abgeschlossen. Es ist rar, dass ein unbekanntes Werk eines solchen Superstars wie Kandinsky auftaucht. Das ist für uns etwas Besonderes, und es macht viel Freude, so etwas zu entdecken.
Das Gespräch führte Katrin Basaran.