Eine Stunde einfach nur schauen und beobachten. Früher taten das viele, vor allem ältere Menschen. Flugs eine Decke aufs Fensterbrett drapiert, die Ellbogen darauf gestützt, und schon war er fertig, der Aussichtspunkt. Nicht ganz so griabig, aber durchaus ähnlich sah das improvisierte Türmerstüberl jener Münchner aus, die während des harten Lockdowns täglich bei Sonnenauf- und -untergang Dienst hatten.
Das Türmer-Projekt der belgisch-australischen Choreografin Joanne Leighton läuft seit dem 12. Dezember 2020 auf dem Dach des Gasteig. Beziehungsweise: Zunächst einmal lief dort gar nichts. Der für die Performance der Bürger eigens gebaute hölzerne Shelter (zu Deutsch: Unterschlupf) mit Aussicht über die ganze Stadt blieb erst mal leer. Von dort aus über München wachen durften die Teilnehmer Covid-bedingt erst ab Anfang März, obwohl sie dort oben ganz alleine gewesen wären, begleitet von einer einzigen Person, die in einem anderen Zimmer auf sie wartet. In Zeiten, in denen sich weiterhin Menschen in den Betrieben und Schulen ansteckten und die Inzidenzen nach oben trieben, haben das viele nicht verstanden. Aber Türmen, das ist, so wissen wir heute nach Monaten der Pandemie, „nur“ Kunst. Das Projekt lief während des Lockdowns dennoch weiter. Die Türmer durften sich ihren Ort zum Arbeiten selbst aussuchen: Der Platz war egal, Hauptsache, sie waren allein und konnten ihre Umgebung beobachten. Nicht alle wählten das warme Fensterbankerl, obwohl bitterkalter Winter herrschte. Claudia etwa stellte sich an einem windigen Februarmorgen eine Stunde lang im Münchner-Kindl-Kostüm auf den Rodelhügel in den Ostpark. Helmut und Susanne wählten – natürlich getrennt voneinander, denn getürmt wird allein – den Luitpoldberg, andere standen bei der Bavaria, am Monopteros, an einem Teich oder am Friedensengel. Alle dick eingemummelt, mutig und verwegen. Die ganz Disziplinierten wählten die Stunde des Sonnenaufgangs, die anderen die des Sonnenuntergangs.
Auch die Verfasserin dieser Zeilen türmte erst mal ohne Türmerstüberl. Allerdings suchte sie sich, weil eine Türmerin ja nicht wild herumlaufen und sich dabei warm-, sondern innehalten und beobachten soll, einen beheiztes Platz am Maxvorstadt-Zimmerfenster. Höhepunkt ihres einstündigen Sinnierens bei einem kaum merklichen Sonnenuntergang: Alles, was Rot war, fiel im winterlichen Grau positiv auf. Außerdem notierte sie „fünf Hunde, darunter ein Dackel. Vielleicht ein Pferd, dafür kein einziger Vogel (hohe Bodenversiegelung). Vier Pärchen, die im Gleichschritt marschieren.“ Tiefere Gedanken wollten sich in dieser einen Stunde einfach nicht auftun. Auch andere Türmer ergingen sich in charmant verschrobenen Reflexionen: Éléonore, die ebenfalls an Fenster stand, noch dazu im Erdgeschoss, beschreibt im Blog auf https://tuermer-muenchen.de sehr nachvollziehbar, wie sie zunächst befürchtete, dass die Menschen draußen sie bemerken und im Gegenzug ebenfalls beobachten würden. „Das ist nicht geschehen“, notiert sie erstaunt. „Niemand hat mich bemerkt.“
Mittlerweile ist das Türmerstüberl auf dem Gasteigdach wieder offen. Von dort aus die Stadt zu beobachten, stellt sich ganz anders dar, als aus dem Fenster daheim zu schauen. Der historische Türmer ist dort endlich fassbar. Durch das Fenster des von Architekt Benjamin Tovo sehr schlicht entworfenen Aussichtsraums präsentiert sich die Stadt als Ganzes, als Einheit. Die Sicht ähnelt zwar dem Blickwinkel anderer bekannter Aussichtspunkte. Doch gibt es einen Unterschied: Der Türmer ist allein dort oben. Die Stadt liegt in seinen Händen. Zumindest fühlt es sich so an. In Leightons Projekt wird dieses Moment spürbar, wenn auch nur als Metapher. Der historische Türmer dagegen trug echte Verantwortung. Er konnte als Erster Feinde nahen sehen und Alarm schlagen. Fast am wichtigsten aber war es, die Stadt vor Bränden zu schützen, die sich rasch vom Herdfeuer zum Strohsack, von Haus zu Haus fressen konnten.
Als moderne Türmer haben sich übrigens auch einige Stadtobere verdingt, von der Zweiten Bürgermeisterin Katrin Habenschaden bis zu Stadtbaurätin Elisabeth Merk. Das wäre früher nicht möglich gewesen. Türmer und Nachtwächter galten als unehrlich oder ehrlos. Ihren Job hätte sich kein Mitglied des Magistrats freiwillig angetan. Der berühmteste historische Türmer hieß übrigens Heinz. Er hielt auf dem Alten Peter Wache. Seine größte Heldentat war jedoch nicht der Kampf gegen das Feuer. Er soll den Teufel persönlich davon abgehalten haben, den Kirchturm niederzureißen.
Informationen:
Die letzten Plätze werden am 1. Juli vergeben: www.tuermer-muenchen.de. 365 Personen haben bisher mitgemacht.