Kann Liebe Sünde sein?

von Redaktion

PREMIERENKRITIK Rossinis „Barbier von Sevilla“ als hintergründiger Sommerspaß am Gärtnerplatztheater

VON MARKUS THIEL

Nicht die beste Lage für eine Arztpraxis ist das, Tür an Tür mit dem Bordell. Aber so ergibt sich halt ein gegenseitiger Profit der kurzen Wege. Oder Synergie, wie’s der Ökonom etwas neutraler nennt. Berta, Haushälterin des Doktors, entpuppt sich da als Puffmutter. Der Hausfriseur vertickt nebenbei Halblegales an die Dorfkinder. Und wenn’s die vorbeiwandelnden Priester gelüstet, verschwinden sie für ein Stündchen bei den leichten Damen, vielleicht wird das ja aus dem Klingelbeutel finanziert.

Doch wer ist schon frei von Sünde? Das und vieles mehr sagt diese Inszenierung von Rossinis Hit, für die Gärtnerplatz-Hausherr Josef E. Köpplinger mehrfach geübt hat. Den „Barbier von Sevilla“ hat er in Wien, Tokio und Nürnberg herausgebracht, Barcelona soll folgen. Wie viel für München nur aufgewärmt oder tatsächlich neu erfunden wurde, spielt eigentlich keine große Rolle. Der Abend ist ein sommerspaßiger Tango Korrupti, in dem mit Geld vieles und schnell ausgebügelt wird, unter anderem das (hinzugedichtete) uneheliche Kind des Grafen Almaviva. Eine hintergründige Klipp-Klapp-Schnurre, die mit Klischees jongliert, aber nie Karikaturenalarm auslöst.

Im Gegenteil: Köpplinger rückt den „Barbier“ weg vom Schablonenhaften ein Stück weit Richtung Mozart, der mit „Figaros Hochzeit“ bekanntlich Teil zwei lieferte. Wo in anderen Aufführungen draufgedrückt wird, scheint diese in turbulentesten Situationen sogar auf die Bremse zu treten. Ein unterspielter Scherz oder ein Blick kann schließlich mehr bewirken als die Kracher-Pointe.

Dass der Abend trotzdem hochtourig bleibt, auch übrigens in den Rezitativen und im hinkenden zweiten Akt, ist beim souveränen Handwerker Köpplinger Ehrensache. Johannes Leiackers Drehbühne mit Kakteenstacheln (außen) oder Rosendekor (innen) wird dazu fleißig bewegt. Als Zuschauer denkt man bei alledem weniger an die titelgebende andalusische Metropole, eher an eine lateinamerikanische Dorfgesellschaft, in der abseits der Gesetze vieles effektiver funktioniert. Dass Almaviva bei seinem zweiten Verkleidungsauftritt den tuckigen Priester gibt, dass sich Bauarbeiter faunig mit muskulösem Oberkörper räkeln: geschenkt, da ist Köpplingers Berliner Kollege Barrie Kosky schon rosaroter unterwegs.

Während das Bühnenpersonal stückgemäß viel Körperkontakt riskiert, muss das Orchester weiter im Corona-Modus spielen. Die kleine Besetzung skelettiert die Partitur und klingt vor allem in der Ouvertüre schon sehr vegan. Was schade ist, weil Dirigent Michael Brandstätter einen zügigen Rossini al dente bevorzugt, gleichzeitig aber Lyrischem und schönen Phrasierungen Raum gibt.

Traditionell sind am Gärtnerplatz alle Rollen doppelt bestückt. Am Premierenabend bestaunt man das Niveau des hauseigenen Ensembles. Matija Meić kann es in der Titelrolle locker mit Vorbildern und aktuellen Star-Kollegen aufnehmen. Das liegt nicht nur am resonanzreichen Bariton und der hohen Timbre-Qualität: Ein lässiger Figaro ist das, dem die Partie ideal in der Kehle liegt und der daher mit Text und Musik spielen kann. Jennifer O’Loughlin als Rosina geht das genauso: Zwischen Kratzbürste und Jungmädchenzärteln, zwischen Verzierungsartistik und schmiegsamen Lyrismen ist bei ihr alles und sogar zwei Verszeilen abrufbar.

Gyula Rab (Almaviva) liefert dazu das Kontrastprogramm als lyrischer, nie forcierender Feinzeichner. Levente Páll gibt den Bartolo nicht als Rossini-üblichen Poltergeist, sondern mit vielen Zwischentönen und gut getimtem Parlando. Timos Sirlantzis (Basilio) glückt das phonstarke Imponiergehabe ebenso wie das Florett. Auch stimmlich versprüht die Aufführung also jugendlichen Charme abseits der Vokalklischees. Einhelliger Jubel für alle Beteiligten. Angeblich, so betont man im Theater, gebe die ebenso gute zweite Besetzung der Aufführung einen ganz anderen Charakter. Was für uns Opernfreunde heißt: einfach nochmals hingehen.

Nächste Vorstellungen

am 10., 18., 22., 24. und 26. Juli (wechselnde Besetzungen); Telefon 089/2185-1960.

Dorfgesellschaft, die abseits der

Gesetze funktioniert

Jugendlicher Charme fern der Stimmklischees

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