Und schmieren darf man auch

von Redaktion

Schlossmuseum Murnau zum Bezug von Kinderzeichnung und Expressionismus

VON SIMONE DATTENBERGER

Der Pädagoge Georg Kerschensteiner (1854-1932) gab 1905 den dicken Wälzer „Die Entwicklung der zeichnerischen Begabung“ heraus. Gabriele Münter und Wassily Kandinsky sammelten zur gleichen Zeit Hunderte von Kinderzeichnungen. Und Forscher entdeckten wie die Künstlerinnen und ihre Kollegen den „Genius im Kind“, wie es G. H. Hartlaub einst formulierte. Wie ein junger Geist seine Idee von der Umwelt, von Gefühlen, Bewegungen, Dingen darstellt, faszinierte. Das Können der Kleinen erzählt von den Ursprüngen der menschlichen  Kreativität und ist noch nicht verschüttet von Konventionen.

Dieses Geflecht möchte das Schlossmuseum Murnau mit seiner Ausstellung „Punkt, Linie, Fläche – Die Kinderzeichnung und der Expressionismus“ durchleuchten. Und der erste Eindruck ist: Ach, welch bunte Vielfalt! Selbst Museumschefin Sandra Uhrig sagt, schon allein die Vorbereitung der Schau habe gutgetan und „hat uns durch die ungewissen Corona-Tage getragen. Es ist ein Zurück zur Unbeschwertheit.“ In Murnau ist man ja automatisch dem „Blauer Reiter“-Ensemble verpflichtet. Das Museumsteam hat um Gabriele Münter und Co. aber auch Künstler wie Lyonel Feininger und Ernst Ludwig Kirchner und insbesondere die Expressionismusnachfolger nach dem Zweiten Weltkrieg wie Constant und Asger Jorn von der CoBrA-Gruppe (Copenhagen, Brüssel, Amsterdam) und die Münchner SPUR mit HP Zimmer oder Heimrad Prem versammelt. Ein bisserl wird zu Pablo Picasso (Keramik) hingelinst und zu Arnulf Rainer, dem frechen Übermaler.

So zeigt die Exposition bis heute führende Kunstlinien auf – und ermutigt alle Kinder. Denn im Schlossmuseum hängen die Beweise von großen Künstlern, dass man wirklich alles darf, sogar schmieren und baazeln. Damit erweitert „Punkt, Linie, Fläche“ das Gemeinschaftsprojekt „Avantgarde in Farbe“ der vier oberbayerischen Expressionismus-Museen auf anregende Weise. Im Münchner Lenbachhaus kümmert man sich um  die  Konzepte  des „Blauen Reiter“ und im Kochler Franz Marc Museum um Künstlerporträts. Das Buchheim-Museum in Bernried feiert die Farbe im Expressionismus, und  das in Penzberg ab dem 7. August 2021 „Ringsum Schönheit – Campendonk, die Expressionisten und das Kunsthandwerk“.

In Murnau fächert Sandra Uhrig unterschiedliche Ebenen auf, die  Bezug  zur Welt der Kinder haben. Da sind die Märchen-Bilder von Kandinsky; bei Feininger wird Spielzeug wie die Eisenbahn sozusagen lebendig; und Münter versucht sich an einem Stil, der an Kinderbuchillustrationen erinnert. Sie ist zugleich diejenige, die systematisch Kinderzeichnungen – die selbstverständlich ebenfalls ausgestellt sind – (ab-)malend analysiert und für sich künstlerisch nutzbringend umsetzt. Dazu passt ein bisher unbekanntes Münter-Gemälde von 1907. Das Bild „Frühlingslandschaft mit Windmühle“ verlässt gerade den versierten Spätimpressionismus, greift kindliche Naivität auf und expressive Klarheit.

Daneben gibt es in der Schau richtig herzerfrischende Fundstücke. Sohn Klee malt ein Aquarell-Gesicht, und Vater Klee zeichnet hinten aufs Blatt eine verschrobene Groteske. Und Asger Jorn zeichnet gleich zusammen mit Tochter Bodil eine gruselige Geschichte von einem Riesenvogel mit Nilpferdzähnen, was auf ein Männlein und kleine Viecher nicht gerade beruhigend wirkt. Überhaupt sehen die Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg, dass auf Kinderzeichnungen oft die dunkle Seite des Lebens verhandelt wird. Dass es wild, roh und beängstigend auf den Bildern zugeht. Das setzen sie in dämonischen Visionen um – und lieben doch auch eine Fetzengaudi.

Die vier SPURler legten auf sie größten Wert und entwickelten deswegen ein Mal-Spiel. Es gibt Blau, Rot, Gelb, Schwarz, Weiß und ein Blatt. Der Erste fängt mit seiner Farbe an und gibt weiter, bis die Zeichnung wieder bei ihm anlangt und er entscheiden darf, wie es weitergeht. Ob die Kinder, die das im Museum spielen,  toleranter sind als die Ego-Schlawiner Lothar Fischer, HP Zimmer, Heimrad Prem und Helmut Sturm?

Bis 7. November,

Di.-So. 10-17 Uhr; Telefon 08841/476207; Katalog: 25 Euro.

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