Es ist beileibe nicht das erste Mal, dass Prince kalte Füße bekam und ein Album kurz vor der geplanten Veröffentlichung doch lieber im Archiv versenkte. Legendär ist sein Sinneswandel 1987: Sieben Tage, bevor das „Black Album“ erscheinen sollte – es war fix und fertig und wartete auf die Auslieferung –, ließ der Superstar aus Minneapolis die gesamte Pressung einstampfen. Er war zu der Überzeugung gelangt, die Platte sei „böse“. Nur ein paar Exemplare entkamen dem Schredder, sie gehören heute zu den berühmtesten Vinyl-Sammlerstücken überhaupt – das teuerste Original ging 2018 für 42 000 Dollar über die Theke.
Soll heißen: Die Wege des 2016 verstorbenen Künstlers waren unergründlich. Auch „Welcome 2 America“ durfte 2011 nicht das Licht der Welt erblicken, Prince wollte es so. Dabei hatte er sogar die vorangegangene US-Tour danach benannt. Und die Platte ist musikalisch allererste Sahne – seine beste, stringenteste, mitreißendste seit den mittleren Neunzigerjahren. Warum das Genie sie zurückzog, dieses Geheimnis nahm es mit ins Grab. Heute also kommt „Welcome 2 America“ endlich heraus. Die Pointe: Zu keinem anderen Zeitpunkt als jetzt hätte die LP besser gepasst.
Was im Titel wie eine freundliche Einladung wirkt, klingt im gleichnamigen Eröffnungsstück wie eine bittere Bestandsaufnahme: Prince zeichnet die Gesellschaft hin und her geworfen zwischen „alternativen Fakten“ („The Truth is the new Minority“) und virtuellem Opium fürs Volk („Distracted by the Features of the iPhone“), zwischen Exhibitionismus in den Sozialen Netzwerken, entfesseltem Kapitalismus, Perspektivlosigkeit der Unterschicht und struktureller Diskriminierung von ethnischen Minderheiten („Land of the Free, Home of the Brave – Oops: I mean, Land of the Free, Home of the Slave“). Willkommen in Amerika. Prince nahm diese Zeilen im Jahr 2010 auf – und sie haben heute noch Gültigkeit, vielleicht nach der Trump-Administration und in Zeiten von „Black Lives matter“ noch viel mehr. Seit er im Song „Sign o’ the Times“ die Reagan-Regierung der Achtziger aufs Korn nahm, ist Prince nicht mehr so politisch gewesen, nicht mehr so mit seinem Land ins Gericht gegangen.
Dabei ist die Musik alles andere als ein Affront. Prince macht, was er am besten kann, und er macht es diesmal bei jedem Stück: Seine Gitarren-Grooves sind heiß wie Frittenfett und er schreibt eingängige Melodien. Außerdem verneigt er sich vor den Großen seiner Zunft: Das Titelstück borgt sich seine Lässigkeit bei George Clintons „P-Funk“, in „Born 2 die“ hört sich sein Falsett an wie eine Hommage an Curtis Mayfield. Sicher kein Zufall, dass beide frühe Vertreter der „Black Consciousness“-Bewegung waren. Dem gegenüber stehen der typische Prince-Partykracher „Hot Summer“ und das laszive „When she comes“. Im Magazin „Rolling Stone“ erinnert sich Koproduzent Morris Hayes, er habe den Sänger spaßeshalber gewarnt, der könne wegen des lüsternen Textes als Mitglied der Zeugen Jehovas Ärger bekommen: „Mit dem Song wirst Du bei denen rausgeworfen und kannst Dich gleich ins Zeugenschutzprogramm begeben.“ Prince ließ es drauf ankommen.
Aber warum wollte er die Platte dann doch nicht und veröffentlichte stattdessen vergleichsweise Mittelmäßiges? Darauf haben weder Morris, noch Shelby J. (bürgerlich Johnson) – die „Welcome 2 America“ mit ausgesprochen sinnlichen Raps und Gesangseinlagen veredelt – eine Antwort. J. vermutet: „Vielleicht befürchtete er, die Leute hätten es 2011 als Schwarzmalerei abgetan.“ Schließlich hätten die USA da mit Barack Obama einen Afroamerikaner als Präsident gehabt. Doch Prince habe gespürt, dass die Rassenunruhen schon damals zunahmen.
Jedenfalls landete das Album in seinem legendären Tresor (Vault genannt), einem sagenumwobenen Lager von Songs. Prince hinterließ 2016 kein Testament, als er im Alter von 57 Jahren unerwartet und unbeabsichtigt an einer Opioid-Überdosis starb. Nur diesen Raum im Keller seines Studios, zu dem nur er den Zugangscode kannte. 8000 Lieder, so das Gerücht, sollen dort schlummern, unter anderem ein gemeinsames Album mit Miles Davis. Genug Material jedenfalls, um die Welt noch über Jahrzehnte mit Prince-Musik zu versorgen.
Nach seinem Tod wurde der Tresor aufgebrochen und von einem Team aus Archivaren gesichtet – bisher ist das Ergebnis kein Grund, „Leichenfledderei“ zu rufen. Die Veröffentlichungen, die auf Basis der Vorschläge der Archivare erschienen, sind exzellent: Deluxe-Version der Meilensteine „Sign o’ the Times“ und „1999“, eine Zusammenstellung von Demoaufnahmen („Originals“) und ein Konzert am Klavier („Piano & a Microphone 1983“).
Nun also der neueste Streich, diesmal eine echte Sensation. Und Nachlasskurator Michael Howe kündigt schon mal an, dass da noch einige von Prince versenkte Schätze zu heben sind. Zu den Gründen für die Nichtveröffentlichung sagte er bereits vor zwei Jahren im „Spiegel“: „Man kann Prince zwar als wankelmütig bezeichnen, aber er hatte eine extrem klare künstlerische Vision. Und wenn man das in Betracht zieht, dann passten die jeweils versenkten Songs wohl gerade nicht zu seinen derzeitigen Plänen.“
Lange war er
nicht mehr so politisch
Noch einige
versenkte Schätze
sind zu heben