Die Kehrseite des Traums

von Redaktion

AUSSTELLUNG Matt Black im Kunstfoyer der Versicherungskammer

VON ALEXANDER ALTMANN

Ein offener Briefkasten, der windschief auf einem Holzpfosten hängt, irgendwo im Nirgendwo. Tätowierte Underdogs mit schmierig gegelten Haaren. Tankstellen, ausgeschlachtete Autowracks, Provinzkäffer mit ausgestorbenen Straßen, mal in gleißender Sonne, mal im Schnee. Verfallende Hochhäuser, ruinöse Fassaden, Müllplätze. Und immer wieder alte oder ausgemergelte Menschen, meist Schwarze, in Slum-artigen Bruchbuden, von denen man gar nicht glauben mag, dass es so etwas in einem reichen Land wie den Vereinigten Staaten von Amerika gibt.

Nein, Onkel Toms Hütte ist gewiss kein Idyll auf den Fotografien von Matt Black, der zigtausende Meilen kreuz und quer durch sein Heimatland USA gefahren ist, um jenes arme und abgehängte Amerika zu dokumentieren, das nicht in den Nachrichten vorkommt und den Gegenpol zur strahlenden Glitzerfassade à la Hollywood bildet. Präsentiert werden die Fotos der Serie „American Geography“ jetzt im Kunstfoyer der Versicherungskammer in München – wobei es schon einen gewissen frivolen Reiz hat, diese Darstellung großer Armut ausgerechnet in der Zentrale eines Versicherungskonzerns zu goutieren. Aber es passt andererseits auch zu den Aufnahmen des 1970 geborenen Fotografen, der für die renommierte Agentur Magnum tätig ist und vielfach ausgezeichnet wurde. Denn Matt Black zeigt die schäbige Rückseite des „American Dream“ in Bildern von geradezu ikonischer Monumentalität und irritierender Schönheit.

Wobei er die Armut nie verklärt, sondern mit fast schon pathetischer Wahrhaftigkeit schonungslos benennt; aber die leise Melancholie, die all diese Fotos so anheimelnd schmerzvoll durchweht, scheint noch im Scheitern des Amerikanischen Traums indirekt dessen Größe zu feiern. Schließlich ist der Erfolg überhaupt erst als solcher erkennbar im Kontrast zum Misserfolg, der quasi sein unverzichtbares Komplement darstellt.

Auch von diesen Zusammenhängen künden auf der formalen Ebene die starken Hell-Dunkel-Kontraste, die Matt Blacks faszinierende Schwarz-Weiß-Aufnahmen prägen – und unweigerlich die berühmten Brecht-Verse ins Gedächtnis rufen: „Denn man sieht nur, die im Licht sind, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Tatsächlich tauchen Menschen in diesen Bildern oft nur als kleine schwarze Silhouetten auf, deren Gesicht man nicht erkennen kann.

Der Déjà-vu-Effekt, der sich gleichwohl vor den Fotos einstellt, mag daher rühren, dass die (vermeintliche) Entzauberung des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten ein gängiges Motiv, fast ein Topos der US-amerikanischen Literatur und Kunst ist: Zahllose Bücher, Bilder, Theaterstücke der ambitionierteren Art erzählen, wie das Heilsversprechen von „God’s own Country“, wo es „jeder schaffen kann“, sich eben doch nicht für jeden zwangsläufig erfüllt.

Aber diese Ästhetik des Scheiterns sagt alles über eine restlos ökonomisierte Welt, wo wirkliche, nämlich zweckfreie Schönheit bloß noch im Kaputten, Dysfunktionalen liegt, das nicht mehr verwertbar ist. Frei nach Robert Gernhardts geflügelten Worten: „Dich will ich loben: Häßliches, du hast so was Verläßliches.“

Bis 12. September,

täglich 9.30-18.45 Uhr, Maximilianstraße 53; Online Voranmeldung erforderlich unter www. versicherungskammer- kulturstiftung.de. Der Eintritt ist frei.

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