Zum Hochzeitstag bekam Hilde Gummibäume von Walter, jedes Jahr einen mehr. „Mittlerweile wuchs ein hässlicher kleiner Wald in ihrem Wohnzimmer.“ Ein Symbol für ihre lieblose, von Walters Wut geprägte Ehe, aus der sich Hilde erst dann befreien kann, als die Demenz ihren Mann plötzlich sanft und gefügig macht: Sie erschlägt ihn in der Silvesternacht und flieht aus dem Dorf, das ihr längst zum Gefängnis geworden ist.
Aber warum hat sie das getan? Walter, einer der vielen Untoten, die aus dem Provinznest stammen und die dort Überlebenden, nachdem sie selbst das Zeitliche gesegnet haben, weiter auf Schritt und Tritt verfolgen, versteht die Welt nicht mehr. Er wird – gequält von den offenen Fragen – ungewollt zum Chronisten, kommentiert das triste Dasein der Wirtin Branka, des Rollschuhmädchens Helen, des Bastlers Eisenalex, des dicken Hubert und des ungeliebten Bipolarchens. Und trotzdem bleiben ihm das Verschwinden seiner Hilde, ihr Motiv und seine eigene Vergangenheit als Choleriker ein Mysterium.
Eine skurrile, wortgewandte Dorfgeschichte, gespickt mit tiefschwarzem Humor und bitterbösen Gesellschaftsanalysen präsentiert Angelika Klüssendorf (Jahrgang 1958) in ihrem neuen Roman „Vierunddreißigster September“. Die Typen, die sie aufmarschieren lässt – im Leben wie im Tod –, übertreffen sich gegenseitig an Originalität und komischer Tragik, bilden eine Gemeinschaft wider Willen. Und doch sind sie eigentlich alle normal, haben ihre oft traurige Geschichte. Wie Gerda Engel, Hildes Mutter, der nach ihrem Tod im Steinkind endlich das nie entbundene Lithopädion vor die Füße gerollt ist, das sie jahrelang im Beckenboden mit sich herumtrug. Oder Karl, der auch im Himmel noch seine Branka begehrt und sie auf Schritt und Tritt von ihr unbemerkt in ihrem Alltag verfolgt.
Dichter werden die Chronisteneinträge von Walter im Lauf des Romans, kürzer, knapper. Bis sie sich fast auf das Wetter reduzieren. „Die Natur macht ihr Ding“, begründet Walter diese Entwicklung, „egal, ob einer weint.“ Diese Erkenntnis hilft ihm, plötzlich Handlungen zu vollführen, zu denen er lebend nicht fähig war: Hildes Namen auszusprechen und sich darüber zu freuen. Oder ihre Gedichte zu lesen, die sie schon immer geschrieben, die er aber stets ignoriert hatte. Und letztlich dadurch zur Ruhe zu kommen. „Was habe ich noch begriffen? Dass wir dem Leben einen Sinn geben müssen, weil es keinen gibt.“
„Vierunddreißigster September“ ist ein Roman, der sicherlich nicht simpel unterhält. Aber in seiner ihm eigenen Skurrilität hängen bleibt im Kopf, sich abhebt von der Masse der Mainstream-Belletristik und deshalb auf jeden Fall lesenswert ist.
Angelika Klüssendorf:
„Vierunddreißigster September“. Piper Verlag, München, 224 Seiten, 22 Euro.