Es ist ein sonniger Septembertag. Frido Mann bestellt warmen Kakao. Passt nicht so recht zum Wetter, aber sehr zu dem 81-jährigen Autor und Professor für Psychologie. Denn wenn man ihm im Café gegenübersitzt, ist da gleich eine angenehme Gesprächsatmosphäre. Einen echten Dialog zuzulassen – man spürt: Das ist das Lebensthema des Enkels von Thomas Mann (1875-1955). Des „Lieblingsenkels“ – so hat es der Opa selbst einmal formuliert, und seither kommt kaum ein Artikel über Frido Mann ohne den Hinweis darauf aus. Nervt ihn das? Wegwerfende Handbewegung. „Früher hat es mich genervt. Heute finde ich die ständige Thematisierung einfach nur langweilig.“ Viel lieber spricht Frido Mann über Inhalte. Darüber, wie sein Großvater für die Demokratie gekämpft hat. In Radioansprachen, auf Vortragsreisen durch die USA. Der Enkel hat sich vor zwei Jahren selbst auf solch eine Reise durch Amerika gemacht und an mehr als einem Dutzend Orten in den USA und Kanada Vorträge gehalten. Sein neues Buch „Democracy will win“ – der Leitspruch Thomas Manns – erzählt davon und ist gerade bei Wbg Theiss erschienen. Am Dienstag präsentiert es der Autor im Münchner Literaturhaus. Karten und Infos: 089/29 19 340.
Sie stellen Ihrem Buch ein Zitat von Helmut Schmidt voran: „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.“ Einerseits fordern wir heute politische Korrektheit, andererseits machen viele online in derben Worten ihrem Ärger Luft, ohne dass dort eine echte Debatte entsteht. Haben wir zu streiten verlernt?
Ich glaube, dass wir uns gerade in einer Übergangsphase befinden. Vor 50 Jahren gab es ein paar Zeitungen und ein paar Radiosender, und die Leute haben sich darauf verlassen, dass das, was sie da lesen und hören, stimmt. Heute kann jeder im Internet publizieren – und Fake News lassen sich nicht mehr so leicht von seriösen Nachrichten unterscheiden. Man weiß nicht mehr: Was stimmt und was nicht? Wem und welcher Quelle kann ich vertrauen?
Wir verlieren die Orientierung und flüchten uns deshalb in eine kuschelige Political Correctness?
Oder in Verschwörungstheorien, Feindbilder und so weiter. Unsere Welt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so fundamental verändert, dass unser gesamtes Wertesystem neu justiert werden muss. Viele Menschen verwechseln einen Wert wie Freiheit heute mit Ellbogen-Ausfahren.
Sie schreiben, die Sprache sei der Schlüssel zur Festigung des demokratischen Systems. Wie lernen wir, einander zuzuhören? Gefühlt haben die meisten heute nur noch eine Aufmerksamkeitsspanne von zwei Minuten…
Indem wir erst einmal zu uns selbst zurückfinden. David Ben-Gurion, der erste israelische Ministerpräsident, hat beispielsweise meditiert, bevor er eine wichtige Mitteilung zu machen hatte. Dass das Bedürfnis nach Ruhe und innerer Einkehr groß ist, zeigen die vielen Yoga-Zentren oder Schweige-Seminare im Kloster. Darum geht es: sich mal rausnehmen aus der Reizüberflutung, sich nicht nur berieseln zu lassen, sondern mal mitzudenken und mitzusuchen, wie die gesellschaftliche Entwicklung weitergehen könnte.
Jeder Einzelne ist gefragt?
Natürlich. Demokratie, das beginnt doch schon in der Zweierbeziehung. Oder in einer kleinen Familie, einem Freundeskreis. Wenn es doppelt so viele Menschen gäbe, die sich wirklich interessieren und die nachforschen, was in ihrem Umfeld und in der Welt passiert, würde die politische Situation und auch die Sprachsituation anders aussehen als jetzt. Es kommt immer auf den einzelnen Menschen an. Das ist der Nährboden der Demokratie. Keine Systeme, keine Konstruktionen, das gehört mit dazu, aber das Entscheidende sind wir selber.
Ihr Großvater hat mitten im Zweiten Weltkrieg erklärt: „Democracy will win.“ War er solch ein Optimist – oder war dieser oft ausgesprochene Satz sein Mantra, um weiter daran zu glauben?
Ja, Letzteres. Es ist eher eine Kampfansage. Kein optimistisches „Ach, die Demokratie wird schon gewinnen“. Sondern der dringende Appell: Nur wenn wir uns jetzt bewegen, können wir dafür sorgen, dass sie gewinnt. Noch bis 1944 war er sich nicht sicher, ob Nazi-Deutschland wirklich den Krieg verliert. In Europa war Stalingrad die Hauptwende, doch das war von den USA aus weit weg. Erst als die Invasion in Frankreich geklappt hat, wusste man auch in Amerika: Jetzt kann es nicht mehr lange dauern.
Er hat also trotz aller Sorge den Glauben an die Demokratie hochgehalten. Wie ernüchternd war es für ihn, die McCarthy-Ära mitzuerleben? Muss sich das nicht angefühlt haben, als sei all sein Reden umsonst gewesen?
Oh ja. In seinem Tagebuch schrieb er, das sei so schlimm wie die Machtergreifung der Nazis. Das war natürlich ein sehr schlechter Vergleich, aber verdeutlicht seine tiefe Enttäuschung. Er wollte die USA eigentlich früher verlassen, doch der Verkauf des Hauses in Kalifornien verzögerte sich, und so hat es bis 1952 gedauert, dass die Familie zurück in die alte europäische Heimat übersiedeln konnte. Bis dahin war es nicht leicht, es fühlte sich an wie ein zweites Exil, nur umgekehrt.
Sie waren damals ein Bub. Welche Erinnerungen haben Sie an die Zeit in Kalifornien?
Ich erinnere mich noch gut an den gelben Schulbus und habe die lebendigsten Erinnerungen daran, wie es im Haus zugegangen ist. Mein Großvater hat gern das Andersen-Märchen von der Schneekönigin vorgelesen. Eine Geschichte voller Kälte und Eis – das war typisch, dass er das auswählte, es passte zu der bitteren McCarthy-Zeit.
Und wie war es dann für Sie, nun wieder – Jahrzehnte später – während Ihres Aufenthalts in den USA, als Gastforscher in dem Haus zu wohnen?
Fast ein bisschen gespenstisch. Wenn ich abends noch einmal runter in die Küche gegangen bin, um mir einen Tee zu machen, kam ich im Halbdunkel am ehemaligen Living Room vorbei, wo heute wieder der Flügel von einst steht. Und auf einmal kamen Erinnerungen hoch daran, wie der Großvater im Sessel saß oder die Tante Zeitung las, man einen Kaffee, Likör oder was auch immer trank. Für Sekunden blitzten die Szenen vor meinem inneren Auge wieder auf.
Was für ein Geschenk, das erleben zu dürfen, oder? An einen Ort der Kindheit zurückzugehen…
Genau, auch der Blick aus dem Fenster, diese Bäume! Oder der Parkplatz – es ist derselbe Platz wie damals. Nur die Automodelle haben sich etwas verändert. (Lacht.)
Wie fühlen Sie sich heute mehr: als US-Amerikaner oder als Deutscher?
Das sind verschiedene Ebenen. Die amerikanischen Urmuster im nonverbalen Bereich – die Stimme, Gestik, die Mentalität, die man spüren kann – erwachen sofort, wenn ich in Amerika bin. Und wenn ich zurück bin, geht das genauso schnell wieder weg. Drüben war ich als Kind auf der Straße und in der Schule Amerikaner, Punkt. Aber zu Hause, da wurde deutsche Kultur gelebt, da wurde Musik, Literatur gepflegt, da wurde Deutsch gesprochen – da war ich Europäer.
Wie ist denn der europäische Frido Mann? Ist der ernsthafter als der amerikanische Frido Mann?
Ich würde sagen, der europäische ist mehr vertieft in Kunst, Kultur, Literatur, mehr bedächtig, mehr vom Kopf her, kritisch. In den USA läuft alles lockerer. Nach dem Motto: Wir sind frei, jeder darf seine Meinung sagen, die Meinungsfreiheit ist das Allerwichtigste.
Was meinen Sie: Ist sie wirklich grenzenlos?
Nein, es kommt sehr darauf an, mit wem man redet. Aber ich sage mir immer: Wo es möglich ist, sollte man offen sprechen und seine Meinung äußern. Nicht tricksen und nach Schablonen arbeiten.
Offen gesprochen haben Sie bei Ihrer USA-Reise. Sie wollten einen werteorientierten Dialog anregen. An welchen Werten orientieren Sie sich? Am Humanismus wie Ihr Großvater?
Ja, das ist die ethische Grundlage. Sich in andere Menschen hineinzuversetzen und davon überzeugt zu sein, dass die Mehrheit Gutes will. Wenn wir vermeiden wollen, dass Menschen zu Wutbürgern werden, dürfen wir sie nicht missachten. Dürfen ihnen nicht das Gefühl geben, dass sich andere auf ihre Kosten bereichern. Sonst entstehen Feindbilder wie „Die Flüchtlinge nehmen uns alles weg“. Dann wird nicht mehr differenziert, und Lügen glaubt man sowieso immer leichter als Wahrheiten, denn eine Lüge ist einfacher zu verstehen. Die Wahrheit ist kompliziert – das geht in viele Köpfe nicht mehr rein.
Also auch hier: zuhören und miteinander ein echtes Gespräch führen?
Genau, der Dialog ist der Schlüssel!
Das Gespräch führte Katja Kraft