O’zapft is! Doch nicht im Festzelt auf der Theresienwiese, sondern an der Tankstelle im Residenztheater. Was hätte Ödön von Horváth wohl gemacht in diesem zweiten Jahr ohne Biertische und fliegende Karusselle? Wo wären die Figuren seiner Dramen und Romane gestrandet? Wo hätte sie die Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Welt gepackt, wo wären Glaube, Liebe, Hoffnung erhört und dann wieder enttäuscht worden? Wo wären ihre Augen groß und ihre Münder wässrig geworden, was hätte ihren Neid geschürt und was ihr Ehr- und Nationalgefühl? Wo wäre das Begehren käuflich, die Schuldigkeit nie getan und der Erfolg stets dem anderen vorbehalten geblieben? Wo wäre der soziale Abstieg, wo das Verbrechen geschehen? Wo wäre ein Platz gewesen, um über Abtreibung zu tuscheln, radikale Gedanken auszutauschen, sich seiner Desillusion hinzugeben, tags wie nachts, und manchmal auch dem stillen, kleinen Glück?
„Es ist halt so ein Ort“, erklärt Konrad seiner neuen Tankstellenkraft Ulli. „Zwischen einer Autobahn und einer Siedlung. Am Stadtrand, nicht weit genug weg von der Zivilisation, aber auch nicht nah genug dran. A bunter Haufen.“ Zur Spielzeiteröffnung im erstmals wieder voll besetzten Resi inszeniert Simon Stone „Unsere Zeit“, ein Auftragswerk, „frei nach Motiven“ eines Münchners auf Zeit: Ödön von Horváth (1901-1938). Eine Art dramatische Langzeitstudie an der Tankstellenoase einer Münchner Sozialwüste.
Über sechs Jahre hinweg – von den feiernden Schlagzeilen der deutschen Flüchtlingskrisenbewältigung am 31. August 2015 bis zum apokalyptischen Szenario eines rassistisch motivierten Covid-Amoklaufs in der fiktiven Jetztzeit 2021 – gehen hier fünfzehn Personen ein und aus, einsame Sinnsuchende, deren Biografien sich mehr und mehr verweben. Der krebskranke Polizist Stanislaw, der sich als Zuhälter verdingt, und Julia, eines seiner leichten Mädchen; Georg und Elisabeth, deren Nerven und Ehe am Ende sind, während ihre achtjährige Tochter auf eine Nierenspende wartet; Elisabeths Adoptivschwester Thea, die den Mord an ihrer Familie in Ruanda überlebt hat; „der verrückte Italiener“ Massimo, der depressiv um den gläsernen Tankstellenshop geistert, seit er sein Kind an einem Sommertag im Auto vergaß; die Sozialarbeiterin Ruth, die angesichts ihrer eigenen Missbrauchsgeschichte die Luxusprobleme anderer so satthat; der Fußballmanager Felix, der sich alles kaufen kann, nur nicht den Freispruch von der Schuld; der schwule Lkw-Fahrer Eric, dessen zwielichtige Zartheit auf Zerbrochenheit wächst; Sophie, Friseurin aus Cottbus, die in Schwabing erfährt, dass Hilfsbereitschaft eine Frage der Hautfarbe ist. Und dann der eine, der mit fünf Schüssen „unsere“ zu „seiner“ Zeit macht: Martin, rechtsextrem, lebensmüde, unberechenbar.
Dazu das Personal der Tankstelle: Der junge Start-up-Gründer Peter, dem der Aufstieg gelingen und doch kein Hochgefühl garantieren wird; der einfältig joviale Konrad, der die junge Ulli und den geflüchteten Kurden Hawal als Angestellte aufbaut, bevor ihn seine bayerische Unbeschwertheit im #MeToo-Prozess die Existenz kostet. Endstation Sehnsucht.
Was daran Horváth ist? Ein ungemütlicher Ort der vorübergehenden Vergnügung: Saufen, Reden, Rauchen, manchmal Prügeln; darin stereotype Figuren, die an der (eigenen) Unvollkommenheit bis zur Intoleranz verzweifeln; Nachtschwärmer und Tagträumer; der Kampf des Individuums in der Gesellschaft; die „Demaskierung des Bewusstseins“ als Entlarvung von Vorurteilen durch die Färbung der Sprache; der kleine Mann mit dem reinen, weiß-blauen Gewissen aus der Autowaschanlage. „Er denkt, die Welt schuldet ihm was. – Das glauben die meisten.“
Der große Rest ist Simon Stone. Unmittelbarkeit. Theatral gelebter Fotorealismus. Randvoll mit den plakatierten Schlagworten „unserer Zeit“. Dazu Traumata in Fülle, kein Satz ohne „Fuck“, Opfer und Täter. Wütende Seeleneruptionen, für die es zweimal Szenenapplaus gibt. Würde, erklärt Ruth, sei „eine Welt ohne Aggression oder Ego, nur das Glück der Jahreszeiten, der Scheiß, den das Leben uns bringt, und die Art, wie wir ihn schlucken“. „Es ist nicht etwas, was man verliert oder erlangt. Sie wurde dir nie gegeben oder genommen. Man hat sie, oder man hat sie nicht.“
Man mag Stone oder man mag ihn nicht. So oder so spielt da ein überragendes Resi-Ensemble in außerordentlicher, begeisterter Nähe zu seinem 1984 in Basel geborenen australischen Regisseur. Im unheimlichen Nebel, später unendlich fallenden Schnee von Blanca Añóns Bühne, deren videoüberwachtes Menschen-Terrarium an Stones Baseler, nach München übernommene „Drei Schwestern“-Inszenierung erinnert, trägt es mühelos und nonstop, mit fast schon unangenehm eindringlicher emotionaler Dichte durch die drei Teile der knapp fünfstündigen Uraufführung. Langer, begeisterter Beifall.
Nächste Vorstellungen
am 2., 3., 4., 5., 6. Oktober; Telefon 089/21 85 19 40.