„Die Träume der Abwesenden“, Judith Herzbergs ab 1982 über Jahre entstandene Trilogie, wenn auch für die Premiere im Münchner Residenztheater von Michael Billenkamp und Regisseur Stephan Kimmig gerafft, immer noch fünfeinhalb Stunden lang – man stöhnte vorab. Wusste ja auch um Herzbergs niederdrückendes Thema: die Schoah in ihrer geistig-seelischen wunden Auswirkung bis in die zweite und dritte Generation der betroffenen jüdischen Familien. Aber dann wurde man irgendwie leicht von Szene zu Szene getragen. Da war auch eine ungeheure Spielenergie im Raum, regelrecht abgefeuert von einem Corona-bedingt solange auf Warteposition gehaltenen Ensemble – jede, jeder Einzelne eine besondere Farbe in diesem Stück der Erinnerung und zugleich eines trotzigen Lebenswillens. Am Ende anhaltender Premierenapplaus für das Ensemble und die eigens angereiste 86-jährige Schriftstellerin.
Stephan Kimmig, hierorts bekannt durch etliche Inszenierungen in den Kammerspielen, hat von 1988 bis 1996 in Belgien und den Niederlanden inszeniert. War auch ein Wegbegleiter von Herzberg bei diesem Schreibprojekt über den Freundeskreis um Simon und Ada und von daher eingestimmt auf ihre Sichtweisen und Stil. Bei ihr reden die handelnden Personen wie normale Menschen. Banal Alltägliches und Humor haben bei Herzberg ihren realistischen Platz. Zu „Leas Hochzeit“ (Teil I) sind ihre alten Schulfreunde gekommen, die, wie viele andere – auch Herzberg selbst – nach dem deutschen Überfall im Mai 1940 mit veränderter Identität bei nicht-jüdischen „Kriegseltern“ geschützt aufwuchsen. Man kennt sich gut und ist sich der eigenen und fremden seelischen Narben bewusst – und hat darum oft gebrochene Lebensläufe. So wie etwa Leas dritter Mann Nico, der seinen lukrativen Beruf als angesehener Arzt aufgibt.
Leas Familie steht im Zentrum der Trilogie. Ihr Vater Simon hat während eines Aufenthaltes seiner Frau Ada in einer psychiatrischen Anstalt eine außereheliche Beziehung mit Dory. Sie wird schwanger. Obendrein ist Dory die Ex-Frau von Leas gerade geehelichtem Nico. Alles sehr verzwickt. Und alles aus den Traumata heraus zugleich verständlich. Lea will wegen der Vergangenheit keine Kinder. Jetzt drängt sie aus Rücksicht auf ihre Mutter Dory zur Abtreibung. Die schon vierzigjährige Dory freut sich jedoch auf die Geburt. Ada, souverän den ehelichen Betrug ihres Mannes Simon wegsteckend, sieht in diesem Kind die Hoffnung, die Erinnerung an die gewollte totale Vernichtung der Juden wachzuhalten. Man muss es sehen, wie Steffen Höld, Barbara Horvath, Liliane Amuat, Carolin Conrad und Thomas Lettow sich ihre ineinanderverhakte Beziehung schier aus den Eingeweiden spielen.
Das gilt für alle Mitwirkenden. Alle, vor allem die Jungen, tanzen sich frei von den erzählten und nun eingeimpften Schoah-Schatten. Aus lustvoll ent-bremsten Muskeln und Sehnen schütteln sie ihren kampfheißen Streetdance auf die Bühne – fit für jeden Wettkampf. Und das auch in den den Teilen II und III: „Heftgarn“ und „Simon“. Der gesunde Körper in seiner Bewegungseuphorie ist, ebenfalls für den Zuschauer, der Ausgleich für die immer wieder aus dem untergründigen Bewusstseinsstrom wie zufällig an die Oberfläche drängenden Holocausterinnerungen: die Großeltern, die nicht überlebten, die Listen von Vorsichtsmaßnahmen für die versteckten Kinder. Auch die eingespielten Musiken von Schlager bis Techno, feierlichen Chören und sanften Hintergrundklängen rhythmisieren den Abend und machen die Länge vergessen.
Die erst nachtschattige Bühne deutet später mit einem oberen schrägen „Fenster“ aus Neonröhren einen „lichten Ausblick“ an wie auch das riesige Erdkugel-Modell, bestückt mit vielen sanft leuchtenden Lämpchen. Vielleicht werden wir irgendwann erkennen, was wir an unserer Welt haben. Hingehen!
Weitere Vorstellungen
am 1., 15., 16. und 31. Oktober; Karten unter Telefon 089/21 85 19 40, www.residenztheater.de.