Mit dem poetisch anmutenden, fiktiven Ortsnamen Dunkelblum deutet die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse („Quasikristalle“) schon Unheilvolles an. Es wird noch viel schlimmer kommen in ihrem Roman. Und gleichzeitig bizarrerweise auf bittere Weise auch sehr komisch. Der Roman lehnt sich an das historisch verbürgte Massaker von Rechnitz an, von dem man bis heute wenig weiß und den Rest gezielt verdrängt hat. Elfriede Jelinek hat diese Geschichte für ihr 2008 in den Münchner Kammerspielen uraufgeführtes Theaterstück „Rechnitz (Der Würgeengel)“ bearbeitet. Eva Menasse nähert sich dem grauenhaften Massenmord an Hunderten von jüdischen Zwangsarbeitern kurz vor Kriegsende aus dem Blickwinkel verschiedener Personen.
Da gibt es den Arzt im Dorf, dessen Praxis zuvor einen jüdischen Besitzer hatte und der sehr wohl von den verscharrten Toten weiß. Oder den Besitzer des Modegeschäfts, einst aktiver Nazi und später konsequenter Leugner sämtlicher NS-Untaten. Aber auch den einzigen Juden des Ortes, der nach dem Krieg ausgerechnet nach Dunkelblum zurückkehrte. Aus den unterschiedlichen Perspektiven, den Lügen und Euphemismen der Figuren setzt sich schließlich ein schauriges Puzzle zusammen. Die Einwohner wissen alle Bescheid, bewahrten sich aber über Jahrzehnte ihr laut hallendes Schweigen. Bis eine junge Generation 1989 mit eigenen Nachforschungen beginnt, um das vage im Vergangenen Wabernde endlich ans Licht zu bringen. Da passiert dann einen Sommer lang einiges parallel: Der Eiserne Vorhang wird löcherig, was im grenznahen Burgenland deutlich zu spüren ist. Ein Amerikaner taucht auf und stellt unangenehme Fragen, und ein paar junge Leute aus der Großstadt wollen den demolierten jüdischen Friedhof wieder herrichten.
Es geht Menasse um die Nachwehen eines mit viel Eifer und Mühen vergessenen Verbrechens und um eine nie gesühnte Schuld. Sie klagt in ihrem bösen Anti-Heimat-Roman die bis heute währende, nach wie vor frappierend erfolgreiche Geschichtsverdrängung ihrer Landsleute an. Vermeidet es aber, der bis heute nicht genau ermittelten Gräueltat weitere Deutungen und Spekulationen hinzuzufügen. Das Massaker selbst etwa spart sie komplett aus. Eva Menasse konzentriert sich stattdessen auf die Einwohner Dunkelblums, zeichnet ein sehr genaues, detailreiches Bild der Täter, Mittäter und Mitwisser.
Dafür verwendet sie einen genialen Kunstgriff, der diesen Roman so großartig macht. In einer speziellen Art Kunst-Österreichisch, das immer authentisch und doch bei jedem sehr eigen wirkt, dürfen ihre Charaktere sprechen. Frei von der Leber weg. Hübsch ungehemmt und rustikal. Alle Eigenschaften der Dunkelblumer lassen sich am Dialekt erkennen, die Unwahrheiten und die Halbwahrheiten ebenso wie die Ausflüchte und Angebereien, die Wehleidigkeit, der Sadismus, die Selbstüberschätzung und die Eitelkeiten. Die ganzen menschlichen Abgründe, alle hübsch überzuckert mit diesem gemütlich und freundlich anmutenden Idiom. Qualtinger hätt’s nicht besser gekonnt.
Eva Menasse:
„Dunkelblum“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 528 Seiten: 25 Euro.
Die Autorin ist am Mittwoch im Münchner Literaturhaus live oder per Stream um 20 Uhr zu erleben; Karten unter www.literaturhaus-muenchen.de.