Es ist ein ganz eigenwilliger Roman, Jo Lendles „Eine Art Familie“, das jüngste Werk des Schriftstellers und Leiters des renommierten Hanser Verlags. Lendles Sprache ist transparent, fließt, trägt einen mühelos vorwärts, ist dabei oft durchatmet von einem leisen menschennahen Humor.
Ausgangsmaterial für das Buch sind die Tagebuchaufzeichnungen seines 1899 geborenen Großonkels, des Pharmakologen Ludwig Lendle, ergänzt durch intensive historische Recherche. Und so hat sich der hybride Charakter des Romans ergeben zwischen der Vita des Wissenschaftlers und einem Deutschlandpanorama vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus bis in die DDR und die Bundesrepublik. Dabei gelingt es Lendle, den gewichtigen historischen Hintergrund leichthändig auf die jeweilige existenzielle Situation seiner Figuren hin zu raffen.
Der junge Student Ludwig, die 16-jährige Waise Alma, für die er die Patenschaft von seinem verstorbenen Vater übernommen hat, und die Haushälterin Fräulein Gerner: Diese drei Menschen verschiedener Herkunft, mit ihren persönlichen Lebenseinstellungen, wachsen zu einer engen Gemeinschaft zusammen. Lud, wie er kurz genannt wird, unterdrückt seine Homosexualität, kompensiert diesbezügliche Bedürfnisse mit seiner Wissenschaft, speziell mit seinem hartnäckigen Interesse an der Narkose- und Schlafforschung, später auch an Giftgas. Alma steckt irgendwann ihre weibliche Zuneigung für Ludwig weg, wird zur Lebensfreundin. Ihre Libido lebt sie anderweitig aus.
Die „Wahlfamilie“ hält, auch noch während Ludwigs akademischer Karriere an den Universitäten von Leipzig und Göttingen. Und bietet so dem Autor die Chance, in diese drei Charaktere vertieft hineinzuleuchten. Aus Luds Tagebuch wird zitiert: „Alma ist mein Schutz, indem sie bei mir steht und uns betrachtet. Ohne sie könnte ich keinen Atemzug tun. Wahrscheinlich gehört auch das zu den Spielformen der Liebe.“ Ob authentisches Zitat oder in künstlerischer Freiheit erfunden, ist hier nicht von Belang. Aber diese Menschen, wie Lendle sie schildert in ihrer Geformtheit durch die Zeitläufte, ihrem pragmatischen Zurechtkommen und gegenseitigen Haltgeben in schwierigen Zeiten, das ist der Kern des Romans. Das ist das, was uns anrührt.
In ihren familienartigen Schutzraum dringen natürlich auch herbe bis harte Wirklichkeiten, gegenwärtige und erinnerte: der Mangel an Nahrungsmitteln, Luds Einsatz im Ersten Weltkrieg, seine Gefühle für den Kriegskameraden Gerhard, seine medizinisch-technischen Überlegungen, seine Tier- und Selbstversuche und die dadurch entstehende Gefahr der Verstrickung in nationalsozialistische Interessen. „An der Zukunft der Deutschen Nation von Hitlers Gnaden mitzuwirken, das wird mir nicht möglich sein“, vertraut er seinem Tagebuch an. Damit setzt er sich auch ab von der NS-Begeisterung seines Bruders Wilhelm.
„Eine Art Familie“ ist ein Roman über persönlich Menschliches, über Geschichte, Politik und Wissenschaft ohne jede akademische Schwere – eine Erzählung, die sich das Nachdenken über das Leben erlaubt. Wenn man das Buch zuschlägt, hat man es noch lange nicht zu Ende gelesen.
Jo Lendle:
„Eine Art Familie“. Penguin, 359 S.; 22 Euro.
Lesung: Jo Lendle stellt seinen Roman am Mittwoch, 20 Uhr, im Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, vor; Karten – auch für den Livestream – unter 01806/70 07 33 oder online unter literaturhaus-muenchen.reservix.de.