Seelen-Striptease

von Redaktion

Autobiografisches von Sophie Calle in „Wahre Geschichten“

VON ALEXANDER ALTMANN

Einst strippte Sophie Calle in einer Jahrmarktbude in Pigalle, und angeblich trat sie auch schon als Hundedompteuse im Zirkus auf. Weil das aber keine Jobs für eine Tochter aus gutem Hause sind, wurde die 1953 geborene Pariserin schließlich seriös und wechselte zur Kunst. Was sie in diesem Metier treibt, ist allerdings noch viel vogelwilder – und in gewisser Weise die Verlagerung des Striptease vom Körperlichen ins Geistig-Seelische.

Das sieht dann etwa so aus, dass sie heimlich wildfremden Menschen auf der Straße hinterherläuft, bewaffnet mit Kamera und Notizblock, wobei das Ergebnis dieser Detektivtätigkeit das Kunstwerk darstellt, das im Museum präsentiert werden kann und oft wie die ungewollte Parodie eines Fotoromans wirkt.

Ein Faible für höhere Räuber-und-Gendarm-Spiele offenbarte diese Beschattungskünstlerin dann auch, als sie drei Wochen als Zimmermädchen in einem venezianischen Hotel jobbte, um heimlich in den Koffern der Gäste wühlen zu können und den Inhalt zu fotografieren. Natürlich setzt dieser Voyeurismus die Fantasie in Gang, und insofern speist sich der Reiz solcher Arbeiten aus der evokativen Kraft alles Fragmentarischen, das die beiläufige Poesie der Dinge sichtbar werden lässt.

Genau diesem Prinzip folgt Sophie Calle jetzt auch als Schriftstellerin: „Wahre Geschichten“ heißt ihr sehr schön gestaltetes Buch mit kurzen Prosastücken. Aber bei einer Künstlerin, deren Werk gewollt im Niemandsland zwischen Fakt und Fiktion mäandert, wirkt so ein Titel natürlich von vornherein höchst hinterlistig – als wolle er bewusst Zweifel und Unsicherheit anstacheln. Und das, obwohl als Wahrheitsbeweis jeder Geschichte das Foto eines Gegenstandes beigesellt ist, der im Text vorkommt.

Dabei könnte man der Autorin durchaus abnehmen, dass die autobiografischen Episoden „wahr“ sind, die sie da in einer klaren, einfachen und plastischen Sprache ausbreitet. So etwa die Geschichte, wie die Großeltern ihr als Vierzehnjährige eine Schönheits-OP zur Korrektur der Nase bezahlen wollten: „Ich zögerte, man versicherte mir: Ich würde mich bis zum letzten Moment noch umentscheiden können. Man vereinbarte einen Termin bei Doktor F., einem berühmten Schönheitschirurgen. Er war es, der meinen Zweifeln ein Ende setzte. Zwei Tage vor der Operation brachte er sich um.“

Bei aller gewollten Kunstlosigkeit der Prosa – das Dichterische dieser Texte besteht darin, dass sie überraschende Verknüpfungen dessen herstellen, was eigentlich nicht zusammengehört. Während aber „richtige“ Dichter absichtlich das Bekannte in einen unerwarteten Bezugsrahmen setzen, in dem es plötzlich fremd erscheint, legt diese Künstlerin in ihren Texten einfach solche überraschenden Verknüpfungen frei, die sie in der Wirklichkeit vorfindet (und sei es teils auch nur die Wirklichkeit ihrer Einbildungskraft).

Sophie Calle ist der hochempfindliche Detektor, ja ein leicht somnambules Medium, das auf die Poesie der Realität anspricht und sie protokolliert. Vielleicht wirken darum viele Notate erhellend und unheimlich zugleich. So etwa, wenn sie über die Tagebücher ihrer verstorbenen Mutter berichtet: „Ein einziges Heft war nicht datiert. Die Seiten waren unbeschrieben, bis auf ein paar Notizen zur Funktionsweise des Videorekorders, und diesen Satz: ‚Ich bin sehr gut gelaunt gestorben.‘“

Sophie Calle:

„Wahre Geschichten“. Aus dem Französischen von Sabine Erbrich.

Suhrkamp, Berlin, 143 Seiten; 22 Euro.

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