Komponisten, Maler, Schriftsteller für den Tanz zu gewinnen – der Wunschtraum wohl jedes Choreografen. Sergei Diaghilew, Tausendsassa der Kunst-, Musik- und Tanzszene des frühen 20. Jahrhunderts, machte genau dies für seine ab 1909 in Paris etablierten Ballets Russes möglich. Bei Arthaus Musik sind jetzt auf Blu-ray zwei 2018 wiederaufgenommene Ballette aus der legendären Ballet-Russes-Ära erschienen. Titel der Scheibe „Pablo Picasso at Pompeii“ – zu Ehren des großen Malers, der beide Ballette ausstattete. Diaghilews berühmter Solist und Tanzschöpfer Léonide Massine hatte jeweils choreografiert: „Parade“ (1917) nach Jean Cocteaus Libretto zu Musik von Eric Satie; „Pulcinella“ (1920), nach einer neapolitanischen Stegreifkomödie aus dem 18. Jahrhundert zu Musik von Strawinsky nach Pergolesi. Spontanreaktion: Was für eine kreative Versammlung!
Die wurde 2018 vom Ballettensemble des Teatro dell’ Opera di Roma geschichtsträchtig gefeiert – nicht in der Uraufführungsstadt Paris, sondern im römischen Amphitheater von Pompeji. Just dort hatten sich vor einem Jahrhundert Picasso und Cocteau für „Parade“ künstlerische Inspirationen geholt. Wenn auch ursprünglich wohl für „Parade“ konzipiert, ist Picassos 187 Quadratmeter großer Bühnenvorhang mit mythischen Tieren und Artisten-Volk ein wuchtiger bildnerischer Auftakt für beide Werke. Für die Inszenierung in Pompeji verantwortlich zeichnen Eleonora Abbagnato, Erste Solistin des Balletts der Pariser Oper, und Choreograf Lorca Massine, Sohn von Léonide Massine.
In „Parade“ geben Varietékünstler in einer Pariser Straße Kostproben aus ihrer Vorstellung: Auftritte eines Pantomimen, eines luftig-ballettigen Matrosengirls, eines neoklassischen Paares und eines rosa Pferds mit kantig kubistischem Kopf. Die beiden Manager der Truppe, bis zur Taille in einer kubistischen Collage steckend, agieren als lebende Reklame-Schilder. Picassos Dekor und Kostüme und Eric Saties mit Alltagsgeräuschen witzig aufgemischte Komposition sind der eigentliche Clou dieses 15-Minuten-Stücks. Die aus heutiger Sicht eher brave, Häppchen-artige Choreografie hatte Massine nach Anweisungen von Cocteau entworfen. Bei der Premiere am 17. Mai 1917 im Pariser Théâtre du Châtelet brach ein Tumult aus. Das kubistisch-bildnerische Element, obgleich sehr dezent eingesetzt, und Saties einkomponiertes Gerassel von Schreibmaschinen und Motoren, das war offensichtlich zu ungewohnt, zu fremdartig für das damalige Publikum. Auf dem Hintergrund des 1917 noch wütenden Krieges mit Deutschland wurde zudem alles „Nicht-Französische“ als Provokation empfunden.
„Pulcinella“ erzählt im Stil der Commedia dell’Arte eine verrückt verschraubte Geschichte. Pulcinella hat längst sein Herz an Pimpinella verloren, wird jedoch von zwei Bürgerstöchtern angeschmachtet und deshalb von deren eifersüchtigen Freiern erstochen. Pulcinella, der sich jedoch nur tot gestellt hat, inszeniert nun mit seinem Freund Furbo als Pseudo-Leiche eine Beisetzungsprozession, begleitet von einer Schar kleiner Pulcinellen. Vortäuschung und Verkleidung, wenn auch noch so unglaubwürdig, ist das „Commedia“-Mittel. Sogar die beiden ausgetricksten Liebhaber nutzen es: In Pulcinella-Tracht können sie nun bei ihren abtrünnigen Angebeteten punkten.
Am Ende gibt es natürlich drei glücklich vereinte Paare. Bei all dem Geplänkel zwischen Liebe, Eifersucht und Intrige tanzt und tänzelt das Stück unentwegt, jeweils klassisches Ballettvokabular mit komödiantischer Gestik verschränkend. Die Atmosphäre ist perfekt: von der getanzten Komödie bis zu Strawinskys mit italienischen Liedern versetzter Komposition und Picassos farbkräftiger Ausstattung. Vesuv und Vollmond grüßen herab auf die eleganten beiden Paare und die Truppe der weiß-roten Harlekine.
„Pablo Picasso at Pompeii“:
zwei Ballette aus dem römischen Theater von Pompeji (Arthaus Musik).