„Wenn schon allein, dann unter Vorbildern begraben.“ Gertrud Vormweg (immerhin gab es einen berühmten Literaturkritiker gleichen Nachnamens) ist Dichterin; ob eine gute oder weniger gute, ist in dem neuen Buch von Botho Strauß, „Nicht mehr. Mehr nicht“, dessen Heldin sie ist, nicht zu erfahren. Ein bisschen verschroben kommt sie einem schon vor in ihrer kultähnlichen Trauer um den Verlust ihres Liebsten. Der nämlich, ein Migrant von irgendwoher, hat sie schnöde verlassen. Und ihre Welt beginnt sich vor ihren Augen aufzulösen ins Nichts.
Als einfache Betrogene, Belogene, Zurückgebliebene will Gertrud Vormweg aber nicht enden. Wenn schon aus Liebesleid zugrunde gehen, dann nicht derart alltäglich wie all die anderen Schicksalsgenossinnen, sondern mit antiker Grandezza.
Dido, Gründerin und Königin Karthagos, stürzt sich in ihr Schwert und verbrennt auf dem Scheiterhaufen, nachdem ihr Geliebter Aeneas, der Flüchtling aus Troja, auf Befehl Apollons zurückkehrt nach Europa, um der Gründervater Roms zu werden. Nun spricht die Dichterin zu sich selbst, mal in der ersten, mal in der dritten Person. Doch Dido will sie sich nicht nennen, sondern Elissa, nach dem heimischen Namen Didos, „der Verlassensten aller je Verlassenen“.
Ein bisschen Größe in all dem Liebeselend muss schon sein. Mitunter wird auch der Verflossene zitiert, der offenbar um viele Jahre älter ist als die Dichterin in ihren Endzwanzigern. Und in nicht wenigen Sätzen, Statements und Chiffren dieser „Eckensteherin der Gegenwartskünste“ ist auch das Alter Ego des Autors Strauß zu vermuten.
Ist Gertrud alias Elissa dick, dünn, hübsch, hässlich, groß, klein, blond, brünett, von temperamentvollem oder stillem Charakter? Schwer zu sagen, wir erfahren nichts von ihr. Und dennoch schillert eine gewisse Verschrobenheit durch, die sie als Wiedergängerin der Lotte aus Strauß’ Erfolgsstück „Groß und klein“ aus dem Jahr 1978 erscheinen lässt. Aber Botho Strauß verweigert seiner Erzählung eine vorwärtstreibende Handlung. Die darf man sich denken.
Er umhüllt vielmehr die Geschichte seiner Protagonistin wie schon in seinen vorangegangenen Arbeiten immer wieder mit bewährten, verblüffenden, oft rätselvollen Sentenzen, mit Anspielungen und Zitaten literarischer wie philosophischer Art, mit aktuellen Einlassungen zu Auflösung und Verlust von Sprache und Wirklichkeit sowie mit kleinen, gegenwartsbezogenen kulturkritischen Bosheiten: „Die Plage der unnütz Klugen — die intellektuell Bandagierten, die nichts berühren können und die nichts berühren kann; die nichts mehr sehen und erfinden, die mit schmalen Lippen Wörter knacken. Die Gemüts-Invaliden, die ihr Sprachhaus angezündet haben und sich dabei selbst in Flammen steckten, und jetzt haben sie kaum noch atmende Haut, und nur die Bandagen halten ihren Zerfall auf! Sie leben halb erstickt und spüren nichts Kommendes mehr.“
Und die Dichterin fragt sich, was sei schon von Männern zu erwarten, die sich mit einem Nimbus umgeben, der in Wahrheit nur ein Isolierkranz sei, eine Aura-Glocke als dichte Haube über Leib und Seele gestülpt, „darunter das krähende Hirn auf seinem Mist“?
Weil Strauß ein so ehrlicher wie erstklassiger und ironiesicherer Stilist ist, liest sich das alles sehr gut, selbst dann noch, wenn er mitunter die Nähe des Kitsches streift. Dass er aber vor allem ein großer Liebender ist, dass er der Sprache eine sinnlich-poetische Kraft verleiht, dass er Frauenfiguren entwirft und, bei aller Bruchstückhaftigkeit, sie genial beschreibt, das verschafft diesem alten Macho und großen Konservativen seine Einzigartigkeit unter den Schriftstellern.
So wie Dido einst eine Kuhhaut in schmale Streifen schnitt, um damit ihr zukünftiges Herrschaftsgebiet Karthago so groß wie möglich abzustecken, so zerschnitt symbolisch auch Gertrud „den stolzen Roman“, den sie mit ihrem Migranten hatte, in „unzählige schmale Zeilen und steckte damit das Reich ab, auf dem ich meine Verlassenheit gründete“.
Fluch ihrem treulosen Flüchtling. „Dass mich die Schönheit des Mannes verbrannte, da ich schon leicht wie Distelflaum war, der im Herbst über die Weide weht“, kann sie ihm kaum verzeihen. Ernüchternd und ohne Trost ihr Fazit: „Was war’s? Alles, was dir durch den Kopf ging. Dafür hätte eine volle Stunde genügt.“ Für Strauß-Kenner und -Verehrer jedoch ein einzigartiger Genuss literarisch-poetischer, der Romantik verpflichteter Dialektik.
Botho Strauß:
„Nicht mehr. Mehr nicht. Chiffren für sie“. Hanser Verlag, München, 155 Seiten; 22 Euro.
Als Betrogene und Belogene will diese Heldin nicht enden
Der treulose Flüchtling wird verflucht