Das DDR-Leben als ewiges Tabu

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG Bernhard Schlinks deutsch-deutscher Roman „Die Enkelin“

VON MARKUS THIEL

Als „Ballast“ werde die DDR-Lebensgeschichte von den Wessis gemeinhin empfunden. Als ob man „die Zugehörigkeit zu unserem wiedervereinigten Land auch nach drei Jahrzehnten deutscher Einheit immer wieder neu beweisen“ müsse, so urteilte Angela Merkel heuer in ihrer Rede zum 3. Oktober. Ungewöhnlich persönlich war das und auch emotional. Es ist, wenn man so will, der politisch allerhöchst abgesicherte Beweis für diesen Roman. Denn Birgit geht es ebenso wie Angela – auch wenn ihre Lebensgeschichte nie so glorios gipfelte wie bei der Kanzlerin, sie endete mit dem Tod in der Badewanne.

„Dass ich gerade geflüchtet war, hätte ich besser verschwiegen“, notiert Birgit. Oft sei sie herablassend behandelt worden, als würde sie „auf Kosten der anderen gehätschelt und gepäppelt“. Am besten also, wir Ostdeutschen „lassen alles Östliche hinter uns“. Als diese Zeilen ans Licht kommen, ist Birgit schon tot. Ihr Mann Kaspar, Buchhändler mit Wessi-Sozialisierung, entdeckt diese Texte, sie sind Teile eines nie vollendeten autobiografischen Buches.

Doch vor dem Sprung vom Osten in den Westen, vor dieser Flucht aus Liebe zu Kaspar, lässt Birgit nicht nur ihr altes Leben, sondern auch das Kind eines Seitensprungs zurück. Eine Tochter, die später selbst Mutter wird. Und um „Die Enkelin“, so der Titel von Bernhard Schlinks Roman, beginnt sich bald alles zu drehen. Sehr, sehr viel hat also der Erfolgsautor in sein neues Opus gepackt. Ein Liebesdrama wird verschränkt mit einer deutsch-deutschen Tragödie. Und immer geht es um das große Thema Identität. Um Zugehörigkeit, ob politisch oder emotional, um Selbstbestimmung und um eine Suche nach Verständnis und Glück, die sich verläuft im Niemandsland zwischen West und Ost, das breiter, tiefer, größer ist als gedacht.

Und manchmal scheint auch Schlink nicht ganz zu wissen, wohin er manövriert. Was beginnt als Schilderung einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte zwischen Kaspar und Birgit, die ihre Probleme im Alkohol ersäuft, biegt ab in ein Buch im Buch – es sind Birgits hinterlassene Notizen, die ihr Witwer findet. Und die er als eine Art Vermächtnis begreift: Zu gern hätte Birgit ihre im Osten zurückgelassene Tochter wiedergesehen, um ihr zu erläutern, warum sie keine Mutter sein konnte.

Was Birgit nie in Angriff nahm, besorgt Kaspar. Und damit mündet Schlinks Roman in einen weiteren, den Hauptteil. Kaspar findet eine junge Frau, die nun – auch so eine Folge der Wende-Wirren inklusive Hass auf alles Neue, Andere – mit einem Rechtsextremisten verheiratet ist. Zu beider Kind knüpft Kaspar eine Beziehung und will seiner (Stief-)Enkelin bürgerliche Werte vermitteln. Wobei er lernen muss, dass man mit bloßer Verdammung brauner Tendenzen auch nicht weiterkommt.

Was hätte das alles für eine pompöse West-Ost-Sippengeschichte werden können. Ein Werk, das schwer ächzt unter dem Vorsatz, ein weiterer, alles erklärender Wende-Roman sein zu wollen. Doch Schlinks Vorteil ist, dass er nicht aus der politischen Draufsicht arbeitet, sondern sich hinunterbeugt zu seinen Figuren. Dort, auf Augenhöhe, im manchmal tiefen Gestrüpp ihrer liebenswerten, irritierenden oder abstoßenden Befindlichkeiten, lässt sich überraschend viel entdecken von dieser seltsamen deutsch-deutschen Sache.

Wie immer gerät Schlink sprachlich nicht ins Künsteln. Vieles ist betont schlicht gehalten, bekommt aber durchs Spiel mit Wortwiederholungen oder durch Variationen fast etwas Musikalisches. Irgendwann begreift Kaspar, dass es nicht ums Rechthaben geht, ums Gewinnen im Krieg der Argumente, sondern ums Verstehen. Angela Merkel hätte sich gut mit ihm verstanden.

Bernhard Schlink:

„Die Enkelin“. Diogenes, Zürich, 368 Seiten; 25 Euro.

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