Klangzauberer und Wortkünstler

von Redaktion

NACHRUF Trauer um Stephen Sondheim, der eine Broadway-Musical-Ära geprägt hat

VON MARCO SCHMIDT

Trauer um den Shakespeare des Musiktheaters: Stephen Sondheim, der Klangzauberer und Wortkünstler, der mit seiner phänomenalen Doppelbegabung eine ganze Broadway-Ära geprägt hat, ist tot. In der Musicalwelt galt er nicht nur als König der Komponisten, sondern auch als Titan der Textdichter. Als Barack Obama ihm 2015 die Freiheitsmedaille überreichte, die höchste zivile Auszeichnung der USA, meinte er, Stephen Sondheim habe das Musical schlichtweg neu erfunden.

Tatsächlich gelang es dem vielseitigen New Yorker in jedem seiner Werke, Genre-Grenzen zu sprengen und Neues zu wagen. Mit „Das Lächeln einer Sommernacht“ schuf er ein ganzes Musical im Dreivierteltakt, in „Merrily we roll along“ erzählte er die Geschichte einer Freundschaft rückwärts, in „Pacific Overtures“ experimentierte er mit Kabuki-Elementen. Er schrieb Musicals über verschiedene Attentäter, die versucht hatten, den jeweils amtierenden US-Präsidenten umzubringen („Assassins“), über Figuren aus diversen Märchen, die in einem Wald allerlei Unheil anrichten („Into the Woods“), und über einen mordenden Barbier, der seine Opfer zu Fleischpasteten verarbeitet („Sweeney Todd“). In „Sunday in the Park with George“ schilderte er die Entstehung eines pointillistischen Gemäldes, was ihm 1985 den Pulitzer-Preis einbrachte. Im Laufe seiner Karriere gewann Sondheim zudem acht Tonys und acht Grammys sowie einen Oscar für den von Madonna interpretierten Song „Sooner or later“ aus dem Film „Dick Tracy“.

Schon als Bub konnte er Rimski-Korsakows „Hummelflug“ auf dem Klavier vorführen. Nach der Scheidung seiner Eltern zog er als Zehnjähriger mit seiner Mutter nach Pennsylvania. Sein dortiger Nachbar, der legendäre Librettist  Oscar Hammerstein II („Show Boat“), erkannte sein Talent und wurde für ihn zu einem Ersatzvater und Mentor. „Von Oscar habe ich an einem Nachmittag mehr über Musiktheater gelernt als andere in ihrem ganzen Leben“, sagte Sondheim. Nach einem summa cum laude abgeschlossenen Musikstudium und dem Gewinn eines Kompositionswettbewerbs gelang ihm der Durchbruch am Broadway zunächst als Textdichter: Leonard Bernstein gab ihm den Auftrag, die Songtexte zu seiner „West Side Story“ zu schreiben – und Sondheim lieferte die berühmten Verse zu Liedern wie „America“, in denen er ätzende Sozialkritik in humorvolle Poesie verpackte.

Sein Siegeszug als Komponist begann 1970 mit dem Geniestreich „Company“, einem Konzeptmusical über beziehungsunfähige Stadtneurotiker. Zeit seines Lebens schrieb Sondheim keine eingängigen Hits, die man sofort mitpfeifen und mitschunkeln könnte. Seine Musik ist feinsinnig und vielschichtig, kennt Polyfonie und Kontrapunkt, integriert virtuos Rap-Techniken und verrät Einflüsse von Britten, Copland, Ravel oder Strawinsky. Wie Shakespeare kombiniert auch Sondheim Eleganz und Brillanz, hintergründigen Wortwitz und tiefgründige Weisheit, wobei die Psychologie der jeweiligen Figur stets im Vordergrund steht. Seine Musicals bieten indes Futter für Hirn und Herz: Trotz ihrer intellektuellen Basis zeigen sie Mut zu großen Emotionen. „Mein höchstes Ziel ist es, das Publikum zu bewegen, es zum Lachen, Weinen und Nachdenken zu bringen“, so Sondheim. In der Tat kann man in seinen Werken oft Tränen lachen und wenig später zu Tränen gerührt sein. Seine Songs sind mal herzerfrischend wie „Getting married today“, die zungenbrecherische Panikattacke einer Braut, mal herzzerreißend wie „Send in the Clowns“, die bittere Klage über eine versäumte Liebe. Noch im September verkündete der 91-Jährige in einer TV-Show munter, er arbeite an einem neuen Musical namens „Square one“, das im kommenden Jahr Broadway-Premiere feiern solle. Nun ist Stephen Sondheim am Freitag in seinem Landhaus in Connecticut gestorben. Aber seine Werke bleiben unsterblich – wie die von Shakespeare.

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