Erlebnisse auf Vorrat sammeln, die über einen weiteren Lockdown hinweghelfen. Auch deshalb war die Isarphilharmonie bei Sir Simon Rattles Vor-Einstand mit seinem künftigen Klangkörper trotz der auf 25 Prozent limitierten Auslastung voll: voll von Vorfreude auf eineinhalb Stunden orchestraler Livemusik; voll auch von Ängsten vor dem, was sich jenseits der Klangwelt zusammenbraut.
In einer ähnlichen Gefühlslage mag sich vor etwas mehr als hundert Jahren Gustav Mahler befunden haben, als er seine neunte, seine letzte Symphonie komponierte. Fieberhaft soll er sie geschrieben haben – als ob er wusste, dass ihm die Zeit davonrennt; ästhetisch getragen wurde er von einer krisenhaften Epochenschwelle. Die Neunte ist ein Abgesang auf eine untergehende Ära und zugleich die Ouvertüre für eine neue Welt.
Weltgeschehen lässt Werke reagieren, und so entwickelt Mahlers Abschiedssymphonie beim Benefiz-Konzert am Ende des krisenhaften Jahres 2021 eine Kraft, die weit über den Gänsehaut-Faktor hinausreicht. Das ist allen voran Sir Simon Rattle zu danken, der all das hält, was sich der Bayerische Rundfunk mit seiner Verpflichtung für sein Symphonieorchester erhofft hat: Der Brite hat nicht nur energetisches Charisma, sondern auch eine genaue Idee vom Klangergebnis. Es ist eine in jeder Hinsicht herausragende Interpretation von Mahlers Neunter, die Erkenntnis und Trivialität, Zartheit und Groteske, globale Dimensionen und subjektive Innerlichkeit, Irrsinn und Harmonie versöhnt. Seine künftigen Musikerinnen und Musiker folgen Rattle schon jetzt fast blind, mehr noch: Sie entwickeln eine eigene Klangsprache, die zwischen Extremen changiert, ohne plakativ zu sein.
Die Schlussstille zieht sich ewig wie eine Schweigeminute hin, bevor die 25 Prozent in einem hundertprozentigen, nicht enden wollenden Applaus Danke sagen für dieses großartige Erlebnis, von dem man noch lange zehren kann, vielleicht muss.