Wenigstens etwas Positives lässt sich in diesem Projekt Mensch sehen. Es ist ein Experiment, wie der kleine Robin feststellt. Und: „Dass ein Experiment ein negatives Ergebnis hat, heißt nicht, dass es als Experiment gescheitert ist.“ Die nüchterne Haltung von Papa Theo, ein nach fernen Zivilisationen forschender Astrobiologie, spricht aus diesen Worten. Wer will ihm da widersprechen? Kriege, Erderwärmung, Pandemien, die Erde weiß sich gerade sehr effektiv gegen uneinsichtige, egoistische, profitmaximierende Zweifüßler zu wehren. Immerhin als negatives Beispiel hat der Mensch also eine Funktion – für andere Lebensformen. Irgendwo da draußen, vielleicht weit jenseits der Milchstraße, muss es sie ja geben.
Robin, neun Jahre alt, hat den Durchblick. Auch wenn da Jähzorn sind, Unkonzentriertheit, Stimmungsschwankungen. Manche meinen, er habe Asperger. Doch was heißt schon Störung oder Krankheit? Ist ein Bub anormal, der schneller begreift als die Zerstörungsgenerationen vor ihm? Leicht ließe sich „Erstaunen“, das neue Opus von Pulitzer-Preisträger Richard Powers (Foto: Kirsty O’Connor/PA Wire/dpa), abtun als Öko-Roman. Als sentimentale, pathetische Abrechnung mit der Jetztzeit.
Viele, (zu) offensichtliche Parallelen hat der Amerikaner schließlich eingebaut. Natürlich spiegelt sich in Robin eine Greta Thunberg wider. Zudem gibt es einen US-Präsidenten, der das Land in eine Autokratie mit eigenem Wahrheitsanspruch verwandelt hat, und viele Anspielungen mehr. Gerade deshalb hat sich Powers Vorwürfe anhören müssen. Als ob man das wichtigste Thema überhaupt nur Leitartikeln oder den Maybrit Illners dieser Welt mit ihren Dauergästen überlassen sollte.
Die Gefährdung der Erde bricht Powers herunter auf das Schicksal einer US-amerikanischen Kleinfamilie. Robins Mutter, leidenschaftliche Umweltkämpferin und Juristin, kam bei einem Autounfall ums Leben. Der alleinerziehende Vater versucht, mit dem nur vordergründig schwierigen Sohn fertigzuwerden – und dies ohne sedierende, persönlichkeitsverändernde Medikamente.
Als der hochintelligente, traumatisierte Robin immer weniger mit der Gegenwart zurechtkommt, wird er Teil eines wissenschaftlichen Experiments. Eine neurologische Behandlung dank einer Maschine, mit der auch einst seine Mutter arbeitete und in der sie einen Scan ihres Gehirns hinterlassen hat. Ihre positive Einstellung zur Welt, ihre Begeisterungsfähigkeit lernt Robin nun quasi körpernah kennen. Powers, der sich zum Beispiel für sein Erfolgsepos „Der Klang der Zeit“ tief in Musikwissenschaftliches hineingekniet hat, arbeitet hier mit Erkenntnissen und plausiblen Tendenzen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Heilung durch Konfrontation mit Gesundem – so fern scheint das gar nicht mehr.
Vor allem aber lernen wir, die Welt mit den Augen Robins zu sehen. Die Schönheit der Natur, ihre Einzigartigkeit, die sich manchmal nur in einem zu Boden gefallenen Blatt oder in der Unerklärlichkeit des Sternenhimmels manifestiert. Powers will Sensibilisierung, auch indem er hemmungslos emotional wird. Das ist mehr als legitim und mag diejenigen ärgern, die ihr Heil im Unbeteiligten, im Fatalismus oder im Zynismus gesucht haben. Oder die sich von Kindern auf Klima-Demonstrationen belästigt fühlen und mit der Schulpflicht drohen.
Wie Powers hier eine komplexe Vater-Sohn-Beziehung verschränkt mit dem großen Thema unserer Zeit, ist die Stärke dieses Romans. An manchen Stellen mögen Absicht und Konstruktion zu stark durchscheinen, doch wird das wettgemacht durch den Sog, den die Geschichte entfaltet. Ein mehr als lesenswertes Buch also mit einem wichtigen Anliegen. Ob er sich an Opa erinnere, fragt Robin irgendwann seinen Vater. Der sei immer kränker geworden, nie zum Arzt gegangen und dann gestorben. „So macht das die ganze Welt.“
Richard Powers:
„Erstaunen“. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main, 320 Seiten; 24 Euro.