Seine Augenbrauen sind in der klirrenden Kälte eingefroren: Da steht Mads Ole wie aus der Zeit gesprengt, die Kleidung und Stiefel aus Fell. Als Inuit-Jäger, der indigenen Volksgruppen Grönlands, hält er einen Speer in der Hand. Hinter ihm ragen riesige Gebilde aus Schnee und Eis in die Höhe. Sie wirken unwirklich, ja fast tot – am Ende aber doch lebendig.
Es ist eine spektakuläre Szene, die der isländische Fotograf Ragnar Axelsson 2019 eingefangen hat. Und für jene „Momente“, wie er sie nennt, reist der 63-Jährige schon seit 40 Jahren durch Island, die Arktis und Grönland. Seine Fotografien dokumentieren das Schmelzen des ewigen Eises – und die Menschen, die diese Katastrophe täglich vor Augen haben. In der Ausstellung „Where the World is melting“ zeigt er seine Bilder nun im Kunstfoyer der Bayerischen Versicherungskammer in München.
Die Vielfalt der Motive überrascht. In jenen menschenunfreundlichen Territorien gibt es nicht nur Schnee und Eis, scheint Axelsson ausrufen zu wollen. Nur wenige Fotografien zeigen Eisberge oder Gletscher. Und selbst die wirken bei Axelsson oft menschlich: etwa der Gletscher Öræfajökull, aus dem vor Jahrhunderten ein Riese aus dem Schlaf erwacht sein soll und seitdem bedrohlich in den Himmel hinauf starrt.
Neben grobkörnigen Aufnahmen von Schneestürmen, die ganze Dörfer unter sich begraben, gibt der Fotograf teils ungeschönte Einblicke in den Alltag der Menschen. Kinder, Bauern, Jäger und Fischer: Axelsson porträtiert sie feinfühlig ungefiltert. Trotz oder gerade wegen der konsequenten Schwarz-Weiß-Optik fühlt es sich an, als würde man dem Jäger Mads Ole in den Pelzkragen fassen oder die tiefen Falten einer vom Leben gezeichneten Frau aus Tasiusaq mit den eigenen Fingern nachzeichnen können.
Axelsson spielt mit Licht und Schatten, den Formen aus Eis und Stein und mit dem Kontrast zwischen extremer Natur und Anpassungsfähigkeit des Menschen. In der sibirischen Tundra zum Beispiel kämpft der ja bereits mit Temperaturunterschieden von bis zu 100 Grad Celsius.
Beim Gang durch die Ausstellung, die aus den Serien „Gesichter des Nordens“, „Letzte Tage der Arktis“, „Helden der Arktis“ und „Gletscher“ besteht, dreht Axelsson ständig am Schärferegler. So authentisch, dass ein verkrüppelter Baum zum Kunstwerk wird. Das unendliche Weiß ist erbarmungslos, aber keinesfalls karg. „Hier ist ein Schlittenhund dein bester Freund“, weiß Axelsson, der viele arktische Bewohner Freunde nennt, ihre Geschichten und Zukunftsängste kennt. „Dem großen Eis geht es schlecht“, da sind die Inuit sich sicher.
So zeigt Ragnar Axelsson als subtiles, tief bewegendes Finale die Eishöhlen des Vatnajökulls, des größten Gletschers Europas. Da erheben sich plötzlich rätselhafte Reliefs, ja groteske Gesichter, aus den Fotografien: weinende Frauen, ein leidender Christus und ein richtender Gott? „Die Muster der Landschaft sind endlos“, sagt Axelsson und mahnt: „Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Gletscher Islands in 150 bis 200 Jahren verschwunden sein werden.“ Und ohne die weißen Riesen, die er mystisch und realistisch zugleich festhält, wird der Planet sich erwärmen, die Erde sich erheben und noch häufiger beben. Und das geht uns alle an.
Bis 13. März 2022,
täglich 9.30-18.45 Uhr
außer 24., 25. und 31.12.;
Kunstfoyer München, Maximilianstraße 53;
Eintritt: kostenlos.