Weihnachten hat die Welt erobert. Der Weihnachtsmann turnt in der Südsee herum; Weihnachtsbäume blinken in China; beschenkt, gefeiert und gegessen wird mit weihnachtlicher Begeisterung. Im Fernsehen läuft die „Weihnachtsgeschichte“ nach Charles Dickens’ Erzählung, „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ und anderes mehr. In unseren Breiten wissen die meisten, dass hinter all dem netten Klimbim das Fest von Jesu Geburt steht: die extrem kühne Behauptung, dass Gott Mensch geworden ist.
Die ersten Erzähler der Geschichte von Christus, dem Mann, der in Galiläa und Judäa gewirkt hat, haben sicherlich mündlich weitergegeben, was sie mit ihm erlebt oder gehört hatten. Das ist, was wir so ungefähr im Kopf haben, wenn es um Weihnachten geht: Kaiser Augustus aus dem fernen Rom befiehlt eine statistische Erfassung der Untertanen; die schwangere Maria und Josef müssen deswegen in seinen Herkunftsort Betlehem reisen; sie gebiert in einem Stall, weil keine Unterkunft aufzutreiben war; Hirten und später einige Wissenschaftler, von höheren Mächten gesandt, besuchen das Neugeborene; die Flucht nach Ägypten rettet den Kleinen vor König Herodes’ Mordanschlag. Der lässt, einen herrscherlichen Rivalen fürchtend, alle Babys in der Stadt töten.
Dramatische Ereignisse! Kein Wunder, dass die Überlieferungen schließlich schriftlich zusammengefasst und als christliche Heilslehre gestaltet wurden. An dieser Stelle kann es naturgemäß keine theologische Abhandlung darüber geben, ebenfalls keine „Buchrezension“. Aber die Anregung, zum Ursprung von Weihnachten zurückzugehen und die ersten Erzählungen wieder einmal zu lesen.
Schlagen wir das früheste Evangelium auf, das einem Markus zugeschrieben wird (um 70 n. Chr.), ist da – nichts. Die Geburtsgeschichte interessiert nicht, das Wirken Jesu steht sofort im Mittelpunkt. Als legitime Einführung fungiert Johannes der Täufer, der Jesus ankündigt: „…, er aber wird euch mit dem Heiligen Geist taufen.“ Auch im letzten Evangelium (Ende des 1. Jh.), dessen Verfasser als Johannes bezeichnet wird, gibt es keine Alltags-Familiengeschichte. Der Autor packt gleich das ganz große poetische und theologische Besteck aus (das auch Goethes Faust herausforderte): „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist. In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst. … Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“ In dieses paradoxe, tiefgründig schöne Konstrukt aus Wort/Gott/Licht/Leben/Fleisch also Jesus passt das brave Paar Josef und Maria absolut nicht. Nur der Täufer wird nicht vergessen.
Für die Ereignisse rund um Christi Geburt, die im Laufe von 2000 Jahren in Bild und Wort, Musik und Theater so üppig ausgestaltet wurden, müssen wir uns an das Matthäus- und Lukasevangelium halten. Wie im Alten Testament üblich ist ein Stammbaum für den kleinen Jesus unerlässlich – obwohl er doch vom Heiligen Geist stammt. Matthäus (um 80 n. Chr.) geht bis Abraham zurück, Lukas (80 bis 90 n. Chr.) gleich bis Adam. Ersterer stellt bei der Geburtsgeschichte Josef in den Mittelpunkt. Und die „illegitime“ Schwangerschaft von Maria. Unverkrampft stellt der Autor klar, dass es keinen Geschlechtsverkehr der beiden in der Verlobungszeit gegeben hat. Da Josef kein rachsüchtiger Macho ist, will er sich ohne Skandal von Maria trennen; ihr würde Steinigung drohen. Erst als „ein Engel des Herrn“ ihm im Traum alles erklärt, legitimiert Josef den Status von Maria. Und er verzichtet bis zur Geburt Jesu auf den Beischlaf. Da ist Matthäus ganz genau.
Die Umstände der Volkszählung lässt er hingegen beiseite, außerdem befinden sich Mutter und Kind in einem Haus; das Krippen-Motiv entfällt. Dafür werden die Sterndeuter (Weisen, Könige) ausführlich geschildert. Sie schocken König Herodes, als sie nach dem „neugeborenen König der Juden“ fragen. Herodes versucht, sie zu seinen Spionen zu machen, aber die Traum-Warnungen erreichen die Astrologen sowie Josef. Die kleine Familie flieht; und Herodes befiehlt einen grauenhaften Massenmord. Erst nach seinem Tod, so Matthäus, kehren Maria, Jesus und Josef zurück und lassen sich in Nazaret nieder. Im Anschluss daran wird Johannes der Täufer eingeführt. Er ist genauso präsent in den Evangelien wie die Propheten aus dem Alten Testament und das jüdische Leben generell. Keinem der vier Evangelisten ist es eingefallen, einen Gegensatz zwischen dem jüdischen Glauben und dem, den wir den christlichen nennen, zu konstruieren.
Lukas seinerseits stellt Maria ins Zentrum seines Berichts. Er präsentiert sich in seinem Vorwort als Profi-Biograf und theologisch versierter Mensch vor. Der Täufer darf auch bei ihm nicht fehlen. Dessen erstaunliche Geburt (alte Mutter) wird parallel geschaltet zu der noch viel erstaunlicheren Geburt Jesu (jungfräuliche Mutter). Entscheidend ist das Signal: Nichts ist für Gott unmöglich. Elisabeth und Maria werden liebevoll geschildert – bis hin zu Lob-Lyrik auf den „Herrn“ und Maria. Beim Verfasser des Lukasevangeliums begegnen wir schließlich den Weihnachtselementen, die wir so gut kennen: dem Augustus-Aufruf, dem Kind in der Krippe, den Engeln und Hirten. Sie sind es, die Maria erzählen, was die Boten Gottes verkündet haben: „Heute ist euch in der Stadt Davids (Betlehem; Anm. d. Red.) der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr.“
Zitate aus
„Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift“ aus dem Herder Verlag.