„Jahre später: der Leistungskurs Deutsch liest Gedichte. Ich fahre mit dem Rad zur Schule. Es ist Herbst. Nach ein paar Wochen sehe ich, was ich seit Jahren sehe (Schulweg) anders: mehr Farbe, mehr Geruch, Präsenz. Schuld sind die jeden Mittag nach der Lektüre in den Mülleimer geworfenen Texte. Diese kleinen Dinger verändern mich.“ Das ist einige Jährchen her, Ulrike Draesner, gebürtige Münchnerin, wird am 20. Januar 60 Jahre alt. Längst ist sie eine herausragende Poetin und Erzählerin; darüber hinaus eine Frau mit pädagogischem Eros. Den lebte und lebt die Wissenschaftlerin aus an der Uni Oxford und seit 2018 als Professorin am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig und sogar in ihren fiktionalen Werken.
Dezent ausgeprägt ist das in ihrem zuletzt erschienenen „doggerland“, einem sprach-experimentellen Urzeit-Epos (2021; wir berichteten), und dem fulminanten biografischen Roman „Schwitters“ (2020; wir berichteten) über den deutschen Künstler, der so ungeheuer wichtig und befreiend in die Kunstgeschichte hineinwirkte. Deutlicher ausgeprägt ist die Didaktik in ihrem Geburtstagsband „hell & hörig Gedichte 1995-2020“, der heute in den Handel kommt.
Die versammelten alten, neuen und die vielen noch nicht erschienenen lyrischen Texte sind in elf Kapitel von „girls“ über „wald“ bis „hot hott roast“ zusammengefasst, und zwar sinnstiftend und obendrein jeweils eingeleitet von einem Prolog/Präludium. Inhaltlich, optisch und klanglich wird erklärt und poetisiert, erzählt und Sprach-Gaudi gemacht („mundart“ meint: Mund Art). Das obige Zitat leitet den ersten Abschnitt ein.
Aus diesen Vorspann-Formen, die poetologisch, also wissenschaftlich, argumentieren, und damit verwoben die lyrische Sprache tanzen und singen lassen, entspringen die Gedichte wie von selbst, jedoch gut erklärt. Leserinnen und Leser werden in der sich rigoros öffnenden Sprachwelt Draesners nicht allein gelassen, sondern beruhigend von ihr an die Hand genommen und ermutigt. Sie werden schließlich in die vogelwilde Freiheit ihrer Verse und Assoziationen, Stimmungs- und Erlebnisfetzen, Naturgenüsse und Kultureinsprengsel mitgenommen.
Da heißt es beispielsweise selbstironisch und klug: „Definition to go: Poesie ist kein Medium des Selbstausdrucks. Definition to go: Sie setzt sich in Gang ???“ Das kann bedeuten, dass man schon mal kaum etwas zu verstehen glaubt und sich seinen eigenen Reim darauf machen muss. Das kann ebenso bedeuten, dass ein Shakespeare-Sonett so rotzfrech übersetzt wird wie „Yellow Submarine (Gelbe Suppmarie)“.
In all diesen freundlich-didaktisch geordneten Sprech- und Sprachturbulenzen gern auch zwischen Deutsch, Englisch mit einer Prise Latein, Griechisch und Mittelhochdeutsch könnte man allerdings auch so etwas wie die Darstellung eines Frauenlebens finden: vom Mäderl (im Münchner Viertel Berg am Laim) über Selbstbefreiung/-befragung, Fehlgeburt, Tod der Eltern, Muttersein (ein herrlich komischer Hymnus) bis zu den Arten der Liebe. Jedenfalls wird Ulrike Draesners „Gedicht“ stets zum Buchstaben-Lasso, „das etwas einfängt, das man ohne dieses Lasso und seine Bewegung nicht sähe.“
Ulrike Draesner:
„hell & hörig Gedichte 1995-2020“. Penguin Verlag, München, 260 Seiten; 24 Euro.