Vielleicht sind Dichter ja wirklich so etwas wie Seismografen: Menschen, die feinste Schwingungen des allgemeinen Geisteszustandes deutlicher wahrnehmen als andere. Insofern wäre es ein gutes Zeichen, dass der Weßlinger Lyrik-Tausendsassa Anton G. Leitner die jüngste, gewohnt hochkarätige Ausgabe seiner Jahresanthologie „Das Gedicht“ unter das Motto gestellt hat: „Hoffnung & Aufbruch“.
Denn die Texte zeitgenössischer Poeten, die hier versammelt sind, durchweht tatsächlich ein frischer, gleichsam „ins Offene“ drängender Wind: Nicht melancholisch-düsteres Grübeln herrscht da vor, sondern eine Nachdenklichkeit, die erstaunlich nah am (Wort-)Witz siedelt und gerne sogar in Jux und Allotria umschlägt.
Helmut Krausser etwa reflektiert in einem adretten Sonett darüber, ob es nicht vielleicht doch erstrebenswert wäre, nach dem Tod ein Geist zu werden. Und Bernhard Setzwein fantasiert in seiner schrägen Ballade davon, dass sich eine schäbige (real existierende) Grünanlage aus München-Giesing beim „Zentralamt für geografische Schicksalszuteilungen“ um eine Stelle als Fischteich in Niederösterreich „bewirbt“…
Kommt so was also dabei raus, wenn man Dichter zwei Jahre lang quasi einer reduzierten Realität aussetzt? Bricht sich da ein sachter Drall ins Absurde Bahn, eine Ahnung von Wahn gar, der sich uns allen zu nahen anschickt, eh wir’s gewahren? Bodenständig abgefangen werden solche Bedenken zum Glück von Erwin Messmer, dessen „Läbäsggschichtä“ (Lebensgeschichte) im Sankt Galler Dialekt erzählt, was einst in der Schule alles „düräggnoo“ (durchgenommen) wurde – und wie einen dann im gesetzteren Alter das Gefühl beschleicht, ein Leben lang selbst immer nur düräggnoo worden zu sein, wo es doch stattdessen vielleicht endlich einmal Zeit wäre zum „dürägoo“, also durchzugehen wie ein wilder Gaul.
Das muss man Meike Harms nicht zweimal sagen, wenn sie in einem herrlich abgedrehten Langgedicht dem Irrwitz die Zügel schießen lässt und von einem Tierpark erzählt, wo Tiere „geparkt“ werden. Manche leben aber auch frei auf dem Zoogelände, etwa heimische oder vielmehr komische Vögel wie der „Fink Positive“ samt seinen Spezln „Fink Twice“ und „Fink Deep“. Weil die Parodie der deutschen „th“-Schwäche (think wird fink) nicht reicht, holpert zu allem Überfluss der ganze Text auch noch in saukomischen Knittelversen daher. Aber wo derart ostentativ herumgealbert wird, stellt sich tiefere Bedeutung zwangsläufig ein, egal, ob gewollt oder nicht, weil die übertriebene Nonsensgaudi natürlich jenes Unaussprechlich-Abgründige erst erahnbar macht, das durchs „Geblödel“ überspielt werden muss.
So kommt es einem gelegentlich vor, als würden die Dichter über ihre eigene Courage erschrecken, mit der sie hier einen auf Hoffnung und Aufbruch machen: Halb glauben sie dran, halb zelebrieren sie das berühmte Pfeifen im Walde, mit dem man sich mutiger gibt, als man ist. Aber wer möchte ihnen das verdenken! Treffen sie damit doch genau die Stimmung unserer so prekären Gegenwart, da die Grenzen zwischen Zuversicht und Selbsttäuschung unklarer scheinen denn je.
Anton G. Leitner (Hrsg.):
„Das Gedicht“. Band 29. Anton G. Leitner Verlag, 191 Seiten; 17 Euro.