Die Widersprüche des Lebens

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG Yasmina Reza legt heute ihren großartigen Roman „Serge“ vor

VON SABINE DULTZ

„Meine Mutter hatte ein Foto von uns dreien auf dem Nachttisch stehen, da rangeln wir auf einer Schubkarre herum. Als hätte uns einer in schwindelerregendem Tempo hineingestoßen und in die Zeit geschüttet.“ Wozu? Warum? Worin besteht der Sinn? Das fragt sich Jean Popper, das mittlere der drei Geschwister auf dem erwähnten Bild. Er ist der Ich-Erzähler des heute erscheinenden Romans „Serge“ der französischen Erfolgsautorin Yasmina Reza.

Serge ist der große Bruder, dem mit dem Titel Respekt gezollt wird. Die dritte, die jüngste von ihnen, ist Nana. Heute sind sie so etwa um die 60. Gerade ist ihre Mutter gestorben, der Tod des Vaters liegt schon länger zurück. Nun sind sie, die selbst schon recht betagten Popper-Kinder, Vollwaisen. Und deutlich zeigt sich, wie brüchig, wie gefährdet doch, da die Mutter fehlt, der familiäre Zusammenhalt ist. „Diese Kuddelmuddelkiste, unsere Familie, die hast Du geschaukelt“, ruft Enkelin Margot auf der Beerdigung ihrer Oma Marta nach.

Bei der Trauerfeier kommen sie alle noch einmal zusammen, die Geschwister, der spanische Schwiegersohn, die Ex-Schwiegertöchter und ehemaligen Geliebten, deren Kinder und die leiblichen Enkel, die Freundin aus Martas Jugendzeit. Was wissen sie eigentlich vom Leben der Eltern? Ja, sie sind eine französische, jüdische Familie – mit, vor allem, ungarischen Wurzeln. Aber nie hat das eine Rolle gespielt. Marta, ihre Mutter, war, wie der Vater immer behauptete, eine Antisemitin, die es ablehnte, Opfer zu sein; er selbst, Edgar, ein bedingungsloser, wenn auch pragmatischer Israel-Anhänger. Religion jedenfalls war für sie ohne Bedeutung.

Die Stimmung beim Beerdigungsessen ist gereizt. Da hat Joséphine, Serges Tochter, die grandiose Idee, sich doch einmal auf die Spuren von Mamans Familie zu begeben und gemeinsam nach Auschwitz zu reisen, wo alle ihre Vorfahren ermordet worden sind. Also machen sich Joséphine und „dieses geschichtsvergessene, ungezwungene Trio aus ihrem Vater, ihrer Tante und ihrem Onkel“ tatsächlich auf den Weg nach Polen.

Wenn dieser Besuch zwar den größten Teil des Romans ausmacht, bleiben die vier doch emotional eher unberührt davon. Serge weigert sich generell, obwohl dem Ort angemessen im schwarzen Anzug, sich den Strapazen des heißen Sommertages und des pflichtschuldigsten Gedenkens auszusetzen. Joséphine und ihre Tante Nana sind eisern bereit, möglichst alles nachzuempfinden, sich wissbegierig und erinnerungstechnisch das ganze Grauen theoretisch einzuverleiben. Und Jean, der ewig ausgleichende und liebenswerte Vermittler, pendelt zwischen beiden Seiten hin und her. Bestimmt aber wird das Familienklima an diesem Ort nicht von einer natürlichen Trauer über das Schicksal der Ahnen, sondern vom klein karierten „Familienkuddelmuddel“, von Streit und Zank um undankbare Kinder, kaputte Beziehungen, komplizierte Identitätskrisen, kurz: von der ganz normalen Alltäglichkeit der vier aus Paris Angereisten.

Wie Yasmina Reza diesen immer auch tragikomischen Wahnsinn ihrer Protagonisten zusammenbringt und verknüpft mit der Beschreibung des heutigen Auschwitz und Birkenau, mit dem KZ-Tourismus und zugleich auch der Erhabenheit des Ortes – das ist schlichtweg genial. Politisch erfreulich inkorrekt auf fast jeder Seite – „Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein“, konstatiert Jean, oder Serge stöhnt: „Die gehen mir dermaßen auf den Sack! Kriegen den Hals nicht voll vom Unglück.“ –, hält man doch als Leser den Atem an bei der lakonischen Zeichnung des Schauplatzes. Hat Ich-Erzähler Jean (und mit ihm die Autorin) recht, wenn er über die zu den Gedenkfeiern anreisenden alten und letzten Überlebenden registriert: „Sie stehen für eine andere Zeit, Menschen wie ihnen werden wir nie wieder begegnen. Ohne sie wird es diesen Ort nicht mehr geben. Wozu die Stützstreben, Rasenmäher, die Erhaltung der Backsteine, Ziegel und Balken, wenn sie nicht mehr am Leben sind? Sie nehmen ein ganzes Jahrhundert und einen Kontinent mit sich.“

Zurück in Paris, finden Serge, Jean und Nana allmählich wieder zu sich und zueinander. Der Tod, dem sie in Auschwitz zu begegnen dachten, blieb ihnen fern. Und die ungenannten Toten der Familie ihrer Mutter berührten sie nicht. Das Sterben vielmehr ist überall, es macht vor der Familie und einem selbst nicht halt. „Ganz klar erkenne ich … unser geringes Gewicht, unser Garnichts“, gesteht sich Jean nach dieser Reise ein. Der Weg in ein glücklicheres, sinn- und verantwortungsvolleres Leben könnte somit geebnet sein.

Die Romane und die Theaterstücke der Yasmina Reza sind alle von größtem literarischen und gesellschaftlichen Wert. Der Roman „Serge“ aber schlägt ein neues Kapitel im Schaffen der Autorin auf. Er ist konkret politisch und dennoch voller Leichtigkeit im Schildern der Absurditäten und Widersprüche, des banalen bürgerlichen Lebens mit den Niederlagen und Siegen seiner Heldinnen und Helden. Höchster Lesegenuss.

Yasmina Reza:

„Serge“. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Heinrich Schmidt-Henkel. Hanser, München, 205 S.; 22 Euro.

Tragikomisch erzählt Reza vom Familienleben

„Serge“ schlägt ein neues Kapitel in Rezas Schaffen auf

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