Was für ein schmales Bändchen! Aber schnell merkt man: „Großer Bruder, kleine Schwester“ hat Gehalt. Die kanadische Autorin Kim Thúy, Jahrgang 1968, floh als Zehnjährige mit ihrer Familie aus Saigon. „Boatpeople“ nannte man die Menschen, die auf Booten, unter Lebensgefahr, ihr Land hinter sich ließen. Grund war die im Juli 1976 vollzogene Wiedervereinigung der bis dahin gegeneinander kämpfenden Länder Nord- und Südvietnam.
Thúy machte in Montréal ihren Weg, unter anderem als Rechtsanwältin, Dolmetscherin, als TV- und Radiomoderatorin. Aber die alte Heimat lässt sie nicht los, wie ihr literarisches Schaffen beweist. Auch ihr jüngstes Werk blickt zurück: genau in die Zeit des Umbruchs, die sie als Kind ein Stück weit miterlebt hat.
Kim Thúy hält ihre Kapitel kurz. Überschrieben sind sie meist mit der/den darin porträtierten Person(en). Später nimmt sie, ganz unerwartet, den einen oder anderen Faden wieder auf und betreibt eine Art Ariadne-Spiel mit dem Leser. Da ist zum Beispiel die Geschichte des Franzosen Alexandre: 6000 vietnamesische Kulis rackern auf seiner Kautschuk-Plantage. Sie wird zu einem Viertel von Agent Orange, dem von der US-Luftwaffe eingesetzten Entlaubungsmittel vergiftet und sein Vorarbeiter von einem kommunistischen Widerstandskommando im Schlaf erwürgt. Und dann die fast unglaubliche Geschichte einer Liebe zwischen Alexandre und Mai, einer auf der Plantage zwecks Sabotage eingeschleusten Widerstandskämpferin. Bei einem Großangriff überleben nur ihre gemeinsame Tochter Tâm und die Amme.
Das alles ist lapidar erzählt und hat doch den Nachhall des kriegerischen Irrsinns, des absoluten Grauens. Kim Thúy, mit sensibler Einfühlung in die Schreckenszeiten Vietnams, zugleich mit dem wachen Blick von außen auf die Absurditäten des Krieges, verfolgt die Spur von Tâm und anderer verwaister Kinder, einige aus Verbindungen von GIs und Vietnamesinnen. Sie bringen sich zum Teil als Straßenkinder alleine durch. Viele finden durch Präsident Gerald Fords Operation „Baby Lift“ in Amerika Adoptiveltern. Man bleibt erstaunt, wie es ihr gelingt, mit ihren Erinnerungssplittern, ergänzt durch historische Fakten-Recherche, ein Gefühl für das jahrzehntelang geschundene Vietnam und seine Menschen zu vermitteln.
Kim Thúy:
„Großer Bruder, kleine Schwester“. Kunstmann, München, 145 Seiten; 20 Euro.