Die Leiden der jungen Männer

von Redaktion

Philipp Stölzl inszenierte fürs Residenztheater „Das Vermächtnis“ von Matthew Lopez

VON MICHAEL SCHLEICHER

Zehn schwule Lebenswege. Beginnen wir aber dennoch mit einer Frau, der einzigen an diesem langen Theatertag. Ziemlich an dessen Ende, nach mehr als sechs Stunden, kommt Nicole Heesters auf die Bühne des Münchner Residenztheaters. In ihrem Monolog, der nicht groß sein will und es gerade deshalb ist, zeichnet sie die Biografie ihrer Figur nach: Margaret ist eine patente Amerikanerin, zupackend, herzensgut. Margaret ist aber auch eine Mutter, die beinahe zerbricht am Outing ihres Sohnes. Jetzt, lange nach dessen Tod, setzt sie zur Lebensbeichte an. Sie sei weder mit seinem Schwulsein klargekommen, noch habe sie es geschafft, ihn nach irgendetwas in seinem Leben zu fragen. „Ich machte mich zur Fremden für meinen Sohn.“

Es ist berührend, ihr zuzuhören, und es beeindruckt, wie Heesters diesen Menschen gestaltet. Die Szene ist ein Höhepunkt von „Das Vermächtnis“ – und sie hat ihre Entsprechung im ersten Teil, als Michael Goldberg in der Rolle des Walter berichtet, wie er in den Achtzigern in einem Landhaus außerhalb von New York einen letzten Hafen für an Aids erkrankte Männer schuf, die von dort aus zu ihrer letzten Reise aufbrechen konnten. In Würde. Das vielfach ausgezeichnete Stück des US-Dramatikers Matthew Lopez, 2018 uraufgeführt in London, erzählt die Geschichte schwulen Lebens in den USA ausgehend von einer Gruppe junger Typen im New York zur Zeit von Obamas Präsidentschaft. Im Zentrum der Clique stehen Eric (hinreißend in seinem Mix aus Empathie und trockenem Humor: Thiemo Strutzenberger) und Toby (Moritz von Treuenfels, der mit jeder Faser spüren lässt, dass seine Figur auf der Flucht vor sich selbst ist). Das so sicher geglaubte Leben des Paares wird nicht nur durch die Bekanntschaft mit dem schönen Adam mehr als einmal heftig durchgeschüttelt. In Lopez’ „Vermächtnis“ steckt also vor allem im ersten Teil viel Sex and the City, reichlich Tempo, Coolness und smarter Witz. Doch sonst?

Regisseur Philipp Stölzl, der im vergangenen Jahr „Schachnovelle“ nach Stefan Zweig ins Kino gebracht hat und 2019 bei den Bregenzer Festspielen „Rigoletto“ einrichtete, hat fürs Staatsschauspiel die deutschsprachige Erstaufführung des Werks inszeniert. Am Sonntagnachmittag war Premiere der sieben Stunden, 15 Minuten langen Produktion (drei Pausen), die in der Tat reichlich Anlauf benötigt, um zum Wesentlichen vorzudringen.

Das aber ist weder Stölzl und schon gar nicht seinem hoch engagierten, punktgenau spielenden Ensemble vorzuwerfen, sondern einzig Lopez. Sein Stück ist sehr amerikanisch gebaut, die Dramaturgie orientiert sich an den Serien der Streamingdienste. Das ist gut, weil die Szenen herrlich dahinschnurren. Dialoge, Auftritte, Verweise – alles greift mühelos ineinander. Verloren geht dabei – gerade im ersten Teil – das Eckige, Kantige, denn schon spinnt sich rastlos der Erzählfaden weiter. Die Figuren in ihrer Tiefe auszuloten, kann da kaum gelingen, weil der nächste Witz und noch ein lässiger Spruch bereits warten. Ausnahmen glücken in den ersten drei Stunden Michael Goldberg, der sich – ob als Erics Mentor Walter oder in seiner Rolle als Morgan – immer wieder Zeit zur Reflexion nimmt.

Letzterer ist angelehnt an den schwulen US-Schriftsteller E. M. Forster (1879-1970), dessen Roman „Howards End“ von 1910 der erzählerische Humus ist, auf dem „Das Vermächtnis“ gedeiht. Dieser Morgan bringt zunächst eine Gruppe junger, natürlich schwarz gekleideter Kreativer dazu, diese Geschichte, die die ihre ist, gemeinsam im Spiel zu entwickeln.

Wunderbar glückt Stölzl und seinen Darstellern dieser Auftakt, der an eine Arbeitssitzung von Drehbuchautoren erinnert. Der Regisseur hat dafür den schwarzen Backstein der Brandmauer des Theaters vorne an den Bühnenseiten hochgezogen. Ein Rechteck aus weißen Neonlichtbalken auf dem Boden und in der Kulisse markiert den Spielort: Wer gebraucht wird, zieht sein Kostüm über und springt in die Szene. Die anderen kommentieren und dirigieren von außen.

Das bringt die Inszenierung rasch auf Betriebstemperatur. Ebenso wie die vielen Details, die etwas über die Figuren verraten. Dass die Beziehung zwischen Eric und Toby kein Spaziergang wird, macht etwa Kostümbildnerin Kathi Maurer klar, indem sie die beiden Partner in Quer- (Eric) und Längsstreifen (Toby) kleidet.

All das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der erste Teil reichlich lauten Leerlauf produziert. Seine Wucht entwickelt das Drama in den letzten Stunden: Hier wird Toby zurückgeworfen auf seine Herkunft und muss erkennen, dass in ihm noch immer ein kleiner Bub darauf wartet, von den Eltern geliebt zu werden. Eric dagegen, dieser mitunter hilflose Helfer, entschließt sich, aus all dem Leid, das ihm und den anderen Männern widerfahren ist, zu lernen. Und das immerhin ist ein Anfang. Heftiger Applaus, Standing Ovations.

Nächste Vorstellungen

am 17.,18., 19. Februar; www.residenztheater.de.

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