„Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.“ Ein Bekenntnis, das alles umfasst, was den großen Menschenkünstler Hans Neuenfels ausmacht. Dieses Zitat von Goethes Iphigenie hat er seiner 2011 erschienenen Autobiografie, „Das Bastardbuch“, als Motto vorangestellt. Beim Nachdenken über sein Leben angesichts seines Todes, über seine Inszenierungen von Schauspiel und Oper, seine Kunst-Filme, seine schriftstellerischen Arbeiten, Libretti und Essays öffnet uns jener Klassiker-Satz noch einmal deutlich die Augen für diese durch Fremdheit verursachte, nie nachlassende Erfolgsgeschichte des Hans Neuenfels.
So ist es auch mit jeder seiner Inszenierungen, ob sie nun grandios, genial, empörend oder alles zusammen waren, unterwanderten und eroberten sie Herz und Hirn der Zuschauer.
Der am 31. Mai 1941 in Krefeld geborene Neuenfels studierte Schauspiel und Regie am Wiener Reinhardt-Seminar sowie an der Essener Folkwangschule. Von der Donau brachte er sich seine Mitstudentin Elisabeth Trissenaar mit. Eine Liebe, die sich zur Künstler- und Lebensgemeinschaft gestaltete bis zum Schluss. Kaum eine Inszenierung, in der die Schauspielerin nicht prägend dabei gewesen wäre.
Nachdem der junge Neuenfels ein Jahr im Dienst des Malers Max Ernst stand und bei ihm in Paris gelebt hatte, nahm seine Bühnenkarriere Fahrt auf. Zunächst mit kleinen Produktionen im Ateliertheater am Wiener Naschmarkt. Danach ging’s nach Trier, Krefeld-Mönchengladbach und ins Theater im Zimmer Hamburg. Vier bis fünf Inszenierungen pro Jahr. Klassiker und die Modernen, von Schiller bis Bond, alles war mit dabei. Bremen, Heidelberg, Stuttgart, Frankfurt, Berlin, um nur eine kleine Auswahl jener prominenten Theaterstädte zu nennen, in denen Neuenfels seine Meisterschaft perfektionierte. In denen er gefeiert wurde und auch ausgebuht. Seine Radikalität in der Befragung der Geschichten, seine so andere Sicht auf die Realität verstörte so manchen Zuschauer und auch Kritiker. Weil sie nicht das Gewohnte oder Altvertraute auf der Bühne wiederfanden. Für Neuenfels galt: „Der Zwiespalt zwischen dem Ich und der Gesellschaft ist die Triebfeder der Kunst.“
Auch die Triebfeder seiner Kunst, was besonders deutlich und krass in Erscheinung trat, als er begann, im Musiktheater zu arbeiten und die spektakulärsten Proteste erzielte. Eine derartig genaue und schonungslose Analyse war man nicht gewohnt. Im Dezember 1974 kam es im Zuschauerraum des Nürnberger Opernhauses zu tumultartiger Revolte, sodass der Premiere der Abbruch drohte. Einen solchen „Troubadour“ hatte es bis dahin nicht gegeben. Und auch nicht so eine „Aida“, die Neuenfels 1981 in Frankfurt auf die Bühne brachte.
Natürlich hatte er bei all seinen Unternehmungen – ob in Stuttgart, Berlin oder Wien – starke Partner, insbesondere die Dirigenten Michael Gielen, Lothar Zagrosek, Andris Nelsons, Ingo Metzmacher, Sylvain Cambreling.
Als sich die Theatermenschheit gewöhnt hatte an eine grundsätzlich neue, vorurteilsfreie Sicht auf das jahrtausendalte Medium, war Hans Neuenfels auch reif für Salzburg – „Così fan tutte“ (2000), „Die Fledermaus“ (2001), „Pique Dame“ (2018) – und Bayreuth 2010: Triumph für den Regisseur und seinen „Lohengrin“. Dieses „Nie sollst du mich befragen“, schreibt er in seiner Autobiografie, habe das Team auf die Idee einer Versuchsanordnung, eines Modells, eines Labors gebracht, was zu der szenischen Erfindung des spektakulären Ratten-Chores geführt habe. Über die Besetzung Annette Dasch und Jonas Kaufmann notierte Neuenfels: „Beide waren jung und schön, dass man sich fragte, warum sie überhaupt noch singen sollten. Sie taten es trotzdem, und es wurde ein erotisches, ja sexuelles Abenteuer für mich.“
Ob das für Neuenfels auch die wenigen Arbeiten in München waren, ist fraglich. Aber immerhin hat er auch hier inszeniert. In den Neunzigerjahren am Residenztheater, etwa „Die Zofen“ und „Die tätowierte Rose“, sowie zuletzt im Jahr 2016 „Antigone“. An der Bayerischen Staatsoper war es 2010 „Medea in Corinto“. Künstlerisch heimisch geworden ist er an der Isar nie, wenngleich er auch aus Liebe zum Stück und zum unprätentiösen Münchner Volkstheater an der Brienner Straße vor 25 Jahren Brechts „Baal“ inszenierte.
„Ich gehe kurz noch einmal auf die Straße“, sagte Hans Neuenfels, der gesellig war und gern trank, zu seiner Frau. „Elisabeth schweigt. Immer wieder versucht sie zu tolerieren, dass ein Rheinländer mehrmals am Tag kurz ein Lokal besuchen muss.“ Am vergangenen Sonntagabend, am 6. Februar, ist Hans Neuenfels für immer gegangen.