Der Unfassbare

von Redaktion

Gerhard Richter, Großmeister der Vielfalt, feiert heute seinen 90. Geburtstag

VON SIMONE DATTENBERGER

Gerhard Richter besetzt seit vielen, vielen Jahren den Spitzenplatz der Charts. Gerhard Richter weiß aber auch, was Selbstzweifel sind, ja sogar, was Versagen ist. Der Ausnahmekünstler, der Vielfalt-Künstler wird heute 90 Jahre alt. Die Ranglisten in Sachen bildender Kunst werden nicht nach monetären Werten vergeben, sondern danach, wie gefragt jemand bei Museen, Ausstellungsmachern, Galeristinnen und Kunsthistorikern ist. Und Richter muss man, egal, wo auf der Welt, präsentiert haben, man sammelt ihn und freut sich über jeden Ankauf, jede Schau.

So „strahlt“ noch jetzt im Internet eine Ausstellung der Staatlichen Graphischen Sammlung München, die im vergangenen Jahr in der Pinakothek der Moderne realisiert werden konnte – obwohl sich der Megastar doch von der Atelierbühne zurückgezogen hatte! Aber die Kunst hat ihn nicht losgelassen, schon gar nicht in einer Seuchenzeit.

Es waren wundersam krakelnde, zugleich anmutig tänzelnde Zeichnungen entstanden, die das Publikum in eine heitere Freiheit mitnahmen. Da trumpfte kein Großkünstler auf, keiner, der längst alles weiß und seine Mittel virtuos beherrscht; da nahm uns ein Suchender auf seine Reise mit, bat uns gewissermaßen mitzusuchen.

Wahrscheinlich ist es das stets Fragende, das immer Zweifelnde, das Richters Größe und Akzeptanz bei den Menschen ausmachen. Kaum jemand käme bei seinem heterogenen Œuvre auf die Idee, dass er nicht wisse, was er will, sich als Künstler erst festigen müsse, unsicher herumtaste auf dem Weg zu seinem Stil. Nein, alle haben staunend hingenommen, dass da einer als junger Hupfer mit seinen Spezln in den Sechzigern Happenings abzieht, aber auch gegenständlich Grau-in-Grau nach Fotos malt, eine Pop Art entwickelt, ohne US-Anbiederung; dass da einer Farben kühl wie die Mustertafeln beim Malerbedarf als Rauminstallationen vorführt, aber auch farbverliebt, sinnlich, glamourös ungegenständlich malt.

Bei Richter gibt es die Palette vom Porträt über Akt, Landschaft inklusive Bergmassiv, Vedute, Seestück, Stillleben bis zum Interieur – und natürlich Monochromes, Farbfeldmalerei, gestisch aufgewühlte oder intime Abstraktion, endlose Schichtungen mit dem Rakel (eine Art Schaber), Glasmalerei, Konstruktivistisches, „Strips“-Bilder aus eigenen, digital veränderten Gemälden und so etwas wie Historiengemälde. Auf diesem heiklen Gebiet drohen Peinlichkeit wie Versagen. Der Künstler hatte früh etwa Kampfflugzeuge dargestellt. Er nutzte Fotos zum Beispiel aus Zeitungen, malte die Bilder nach, jedoch durch Verwischen verfremdet. Das Schon-oft-Gesehene wurde deutlicher wahrgenommen, gerade weil es verschwommen und unkorrekt vor einem stand. Ähnlich ging Richter bei Familienaufnahmen vor, die aus der Nazi-Zeit stammten.

Dieses Oszillieren zwischen Benennen, Verschleiern und Verallgemeinern wird am deutlichsten beim Zyklus „18. Oktober 1977“, der zehn Jahre nach dem Tod der ersten RAF-Gruppe entstand. Und tatsächlich, für junge Menschen ist „Baader-Meinhof“ oft nur noch eine Geschichtsahnung aus der alten Bundesrepublik, Richters „Erhängte“ oder „Erschossener“ behalten indes überzeitliche Gültigkeit.

Scheitern musste er – und womöglich hat er das immer gewusst – am Versuch, sich künstlerisch dem industriellen NS-Völkermord zu stellen. Immer wieder hatte sich Richter mit Fotografien aus den KZs auseinandergesetzt – auch bei der Auftragsarbeit für den Reichstag. Dort entschied er sich für die 20 Meter hohen spiegelnden Farbglasflächen „Schwarz, Rot, Gold“. Das KZ-Motiv ließ ihn dennoch nicht los. Aus dem Ringen entwickelte sich nichts Wiedererkennbares, sondern abstrakte Malerei, Farbmühsal in vielen Schichten. Ehrlicher, wahrhaftiger als die „Birkenau“-Gemälde (2014) sind die gleich großen Fotos von ihnen: Sie stehen für das Versagen(-müssen) vor dem ungeheuerlichen Verbrechen und dem unfassbaren Leid. Es gibt nur noch Bilder von Bildern von Bildern, die einen untröstlich machen.

Alle wichtigen Museen haben „ihre“ Richter, so auch die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und das Lenbachhaus. Es besitzt sogar „Atlas“, das Schlüsselwerk Richters zu seinem Schaffen. Hier finden sich neben anderen KZ-Aufnahmen die KZ-Krematoriumsfotos, die Richter zu „Birkenau“ trieben. Seit Mitte der Sechzigerjahre hatte er Arbeitsmaterial gesammelt, vor allem Fotos und Skizzen.

Kurz vor dem Mauerbau 1961 war er in den Westen geflohen und hatte an der Düsseldorfer Kunstakademie genau das richtige Umfeld gefunden, um sich frei zu entfalten – ohne sich anzupassen. Der Zweifler und Reflektierende ordnete „Atlas“ ab 1969 systematisch in einheitliche (mittlerweile über 800) Bildtafeln, das Werk wurde zu Archiv und Kunstinstallation in einem. Er enthält die Landkarten zu Richters Werk – sogar mit den Bildern, die gern für Postkarten verwendet werden.

Weiterführende Lektüre

gibt es in Massen. Wer sich nicht zu ausufernd ins Leben und in die Kunst Richters vertiefen möchte, dem sei der Band „Das Denken ist beim Malen das Malen – Gerhard Richter, Leben und Werk“ empfohlen. Armin Zweite hat eine kenntnisreiche, üppig bebilderte Arbeit vorgelegt, die Klischees und leichtfertigen Interpretationen aus dem Weg geht. Das Buch ist im Zusammenwirken von Schirmer/Mosel Verlag und Lenbachhaus entstanden – mit 477 Seiten, 251 Farbtafeln und 162 Abbildungen; Preis: 128 Euro.

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