Als man ihn in seiner Schwabinger Wohnung trifft, sitzt Alexander Kluge an seinem Schreibtisch. „Arbeiten Sie noch immer jeden Tag?“, fragt man ihn, der am Montag 90 Jahre alt wird. Und er antwortet lächelnd: „Ja, was soll ich denn sonst tun?“ Das Beobachten und Aufschreiben ist sein Leben. An diesem Wochenende feiern die Müchner Kammerspiele den großen Filmemacher, Autor und Denker mit zwei Abenden (siehe Kasten). Gerade ist von Alexander Kluge das Buch „Zirkus/Kommentare“ bei Suhrkamp erschienen (176 Seiten, 30 Euro). Ein Gespräch über den Zirkus des Lebens.
Was sind Sie: der Clown, der Dompteur, der Zauberer, das Publikum? Wo ist Ihr Platz in der Manege?
Ich bin der Autor. Und ich war einmal ein kleines Kind, das sich für Zirkus entzückte. Für die Lichter, den Geruch. Dass man die Tiere zu etwas bringt, was sie von sich aus nie täten. Also etwa der Elefant, von der Gravitation immer zum Erdmittelpunkt gezogen, soll auf einem Fuß stehen – was nicht seine Gewohnheit ist. Das kann der Mensch bewirken und darauf ist er stolz. Es geht eigentlich um das Allmachtsgefühl, diese eigenartige Artistik in der Zirkuskuppel.
Darüber haben Sie vor Jahrzehnten einen Film gedreht. Ist das, was Sie schon immer fasziniert hat: dieses Nach-den- Sternen-Greifen der Artisten?
Dies und dem entgegengesetzt die Bodenhaftung, das ist mein Thema. Der Mensch ist sachlich – und er ist empathisch, hat Fantasie. Das sind zwei Beißwerkzeuge, die entgegengesetzt sind.
Denn man muss die Bodenhaftung verlieren, um fantasieren zu können.
Sicher, sicher. Um abheben zu können.
Haben wir das in den vergangenen zwei Jahren der Pandemie verloren, dieses Fantasieren, was möglich ist, weil ja gerade nichts mehr planbar ist? Sind wir zu vernünftig geworden?
Das würde ich nicht sagen. Gucken Sie: Da kommt ein Außerirdischer, der hat sich zu uns verirrt. Entweder aus einem Labor oder aus dem Inneren von Fledermäusen, wo er schon fünf Millionen Jahre saß. Und der hält uns den Spiegel vor. Wie ein Eulenspiegel zeigt er uns unsere Schwächen. Wir können uns nur mühsam umstellen, mutieren sehr langsam – und das Virus extrem schnell. Die Schwäche vom Virus ist, dass es aus Schusseligkeit sein Erbgut nicht exakt weitergibt. Dadurch ändert es sich so fix. Ein Schauspieler der Evolution. Wie Hase und Igel: Wir jagen hinterher und das Virus sagt: „Ich bin schon da!“
Das ist gemein.
Das ist gemein und das ist auch nicht lustig. Ich sage Ihnen, ich habe durchaus Angst, ich möchte das nicht in mir haben. Gleichzeitig aber habe ich auch Respekt davor, dass es etwas gibt, was nicht unsere Allmacht ist. Der Anti-Zirkus.
Sie leben 90 Jahre auf dieser Erde. Haben Sie eine vergleichbare Situation schon mal erlebt?
Nehmen Sie den Krieg und die Bombenangriffe 1944/45: Das war schlimmer. Um Corona zu entgehen, müssen wir ja eigentlich nur vorsichtig sein, uns hüten, Abstand halten. Halten Sie mal Abstand von einem Fluggeschwader, das auf die Stadt anfliegt!
Sind Sie deswegen verärgert über Menschen, die sagen: „Ich halte mich nicht an die Regeln“?
Meine Aufgabe ist nicht, Vorhaltungen zu machen, ich bin kein Lehrer. Ich würde allerdings diese Haltung als Arztsohn unter die Lupe nehmen. Jeder Irrtum hat einen guten Grund. Wenn Sie alle Irrtümer auf ihren Grund abklopfen würden, hätten Sie mehr Erfahrungsmasse als wenn Sie nur alle richtigen Ansichten zusammenstellen. Ich bin nicht der Meinung, dass die Literatur der Vormund der Menschen ist. Aber in jedem Menschen steckt eine Beobachtungsgabe. Und davon ist der Autor der Chronist. So machen wir etwas, was jeder Mensch mehr tun müsste: beobachten, aufschreiben, sich merken und auch gelegentlich vergessen.
Was sollte man vergessen?
Ich habe in meinem neuen Buch eine Geschichte geschrieben, die ist etwa eine halbe Seite lang. Im Jahr 1945, als 13-Jähriger, gehe ich in eine Wurstfabrik, wo das Stadttheater Halberstadt evakuiert ist. Dort wird die „Iphigenie auf Tauris“ von Goethe geboten. Ich sitze gedemütigt da, weil ich nicht so ein guter Mensch bin. Iphigenie stammt aus einer Generationenfolge von Verbrechern. Und jetzt hört plötzlich diese Verbrecherkette auf. Weil da eine junge Frau ist, die nicht auf der Höhe des Bösen ist. Sie ist zu schusselig dafür. Aus Schwäche vergisst sie das Böse. Das befriedigt mich. Wenn wir die Vorstellung vergessen, dass wir die Mächtigen sind, wenn wir sagen, dass wir nicht an der Spitze der Moralität stehen, dann kann es uns gelingen, gutartig zu sein.
Also nicht nur durch Schusseligkeit, sondern durch Erkenntnis?
Na ja, durch Erkenntnis – und Vergessen. Informieren ist ganz wichtig, das ist die Seite der Sachlichkeit. Erzählen ist aber noch etwas anderes: Es ist erfahrungsgesättigt, mehr als 40 000 Jahre erzählen Menschen schon. Und es ist von der Emotion geleitet.
Deshalb merkt man sich Geschichten besser, wenn man sie erzählt bekommt?
So ist es. Und man muss sie als Erzähler mehrmals durcheinanderwirbeln. Man muss es sachlich sagen, man muss es mit Einfühlung sagen. Und einmal mit Musik. Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man singen, heißt es bei Mozart. Ich finde es schade, dass ich noch nie eine „Tagesschau“ gesehen habe, in der der Sprecher ergriffen war und plötzlich anfing zu singen. So wie die Sänger in der Antike sangen, die von Troja berichtet haben.
Das wär’s, wenn Susanne Daubner in der „Tagesschau“ anfinge zu singen.
Oder Olaf Scholz. Dabei könnten es die Kinderstimmen in uns eigentlich noch immer.
Es würde auch etwas zum Schwingen bringen bei dem, der zuhört.
Richtig. Die Seele badet in Musik. Der Immanuel Kant hat etwas ganz Wunderbares gesagt in dem gefürchteten Schematismus-Kapitel in der „Kritik der reinen Vernunft“. Nämlich, dass es zwei Stämme der Erkenntnis gibt: der eine ist die Sinnlichkeit, die Anschauung, und der andere ist der Begriff, also das, was der Verstand tut. Die beiden können eigentlich nicht miteinander.
Warum nicht?
Weil sie einander nicht verstehen. Das Auge fängt nicht an, nach Sinn zu fahnden, sondern nur danach, was es interessiert. Das ist ein Lustsucher. Und das Ohr ist ein genialer Unterscheider, ist für das Gleichgewichtsgefühl genauso zuständig wie für die Musik und die Zwischentöne im Reden. Das heißt, wir haben eine Menge Organe, aber die sind alle nicht aufs Ganze gerichtet.
Ein Zirkus.
Das, was im Kopf eines Menschen, im Körper und zwischen Menschen geschieht, das ist großer Zirkus. Aber dann kommt die Poetik und verbindet. Das ist etwas Drittes, das ist die Einbildungskraft, die Fantasie. Sie ist der Tanzschritt des Geistes, der Begriff und Anschauung verbindet.
Erzählen ist das eine, doch dazu braucht es auch Wissen. Verlieren wir an Wissen, weil wir alles jederzeit googeln können?
Gar nicht, denn wir gewinnen dazu.
Aber wir merken es uns nichts mehr.
Warum muss man sich denn immer alles merken, wenn man es nicht braucht? Wissensgut, sogenannten Bildungsmüll mit sich herumzutragen, ist doch eigentlich auch nicht notwendig.
Sagen Sie als jemand, der so viel davon mit sich herumträgt!
Nein, nein. Mein Wissen kommt von der Emotion. Und an der Emotion hängen die Erfahrungen. Es kommt nicht von mir allein. Wissen ist nicht der Kernpunkt – Unterscheidungsvermögen, das ist wichtig.
Und das Erzählen. Neulich saß ich im Restaurant neben einer sechsköpfigen Familie, alle vier Kinder schauten auf ein eigenes iPad. Kommt uns die Lust am Gespräch abhanden?
Nein. Mir ist es auch seltsam, wenn ich vier Kinder dasitzen sehe und jedes guckt in ein anderes Gerät. Aber da reden sie ja eigentlich auch. Das Internet ist ein einziges ganz großes Reden. Die Digitalität ist so etwas wie die Industrialisierung des Bewusstseins. Ich würde mich da nicht an eine Klagemauer stellen. Sondern erst einmal gucken: Sie fangen dann auch wieder an zu erzählen.
Weil das ein Ur-Trieb ist?
Ich glaube, ja. Wenn etwas passiert, wird erzählt – und nicht aufs Handy geguckt.
Und wieder gemeinsam Gedanken-Zirkus gespielt?
Ja, gemeinsames gedankliches Abschweifen ist wie Schwimmen. Wir waren mal irgendwann Seetiere und daher haben wir zweierlei mitgebracht: das Schwitzen und das Weinen. Und das Weinen tröstet seltsamerweise. Das ist das Lamento in der Oper: dass man offen traurig sein kann. Dass Gilda stirbt im „Rigoletto“, der Vater bucklig und verlassen ist. Das sind Dinge, die kommen im Alltag nicht immerzu vor, bewegen uns aber innerlich.
Glauben Sie, man kann Mitgefühl verlieren? Dass man kalt wird wie ein Stein und einen nichts mehr berührt?
Ich glaube, dass ein Mensch das nicht kann. Der Mensch kann nicht willentlich böse sein auf Dauer. Er ist nicht auf der Höhe des Bösen. Er ist auch nicht dauerhaft in der Lage, kalt zu sein.
Also ist der Mensch von Natur aus gut?
Das sage ich nicht. Die Moral kann auch sehr aggressiv werden, die kann Kriege führen. Was reden wir jetzt für Sachen, wie wichtig es ist, darauf zu beharren, in der Ukraine Raketen aufzustellen, wo kurz danach Stalingrad kommt?
Sie haben ein Buch über Stalingrad geschrieben. Was löst die derzeitige politische Diskussion um die Ukraine bei Ihnen aus?
Ich kenne noch die Menschen, die in Stalingrad waren. Viele waren es nicht. Nur 5000 von 300 000 sind zurückgekommen. Dass sich das nicht wiederholen darf, ist etwas, was zu meinem Erfahrungsschatz leihweise gehört. Sie können das nicht erleben, indem Sie darüber lesen. Aber Sie können Menschen kennenlernen, die davon berichten. Das ist unmittelbare Erfahrung.
Über Ihre eigenen Bücher haben Sie einmal gesagt, dass Sie sie schreiben und es Sie danach nicht mehr so sehr interessiert, was daraus wird. Stimmt das?
Das war eine Übertreibung. (Lächelt und deutet liebevoll auf die Bücher, die vor ihm liegen.) Sie sind schon wie Kinder, man mag sie gerne. Aber: Sie gehören mir nicht in dem Sinne. Sie sind entlassen, den anderen Büchern zugesellt und ihnen anvertraut. Das ist etwas, was mich anrührt: Dass seit mehr als 2000 Jahren in Büchern Erfahrungen festgehalten werden und man im Grunde als Autor mit all diesen Autoren verwandt ist. Und dann bin ich schon traurig, wenn die Bibliothek in Alexandria verbrennt.
… und Sie machen einen Film daraus.
Genau, damit man ein Lamento hat darüber. Worüber man weinen kann, darüber kann man anschließend neu anfangen.
Was gibt einem die Kraft dazu, neu anzufangen?
Das kann ich Ihnen nicht auswendig sagen. Aber die Zahl der Autoren hat sich nicht wirklich vermindert, die der Komponisten auch nicht.
Wird man gelassener, je älter man ist? Auch in einer Krise wie der, die wir nun durchleben. Dass man aus Erfahrung sagt: „Das geht vorüber“?
Also nach meiner Beobachtung nicht. Es ist eine Frage der eigenen Persönlichkeit. Meine Mutter war zum Beispiel schneller aufgeregt und mein Vater ruhig. Das guckt man sich ab.
Nach wem kommen Sie in dieser Hinsicht?
Was Ruhe betrifft, würde mein Vater mein Vorbild sein – und tatsächlich bin ich wie meine Mutter. (Lacht.) Zwei Pferde sind vor meine Seele gespannt. Ein schwarzes und ein weißes.
Und nun werden Sie 90 Jahre alt. am Valentinstag! Ein Mann der Liebe.
Das ist ein bisschen übertrieben. Aber immerhin: fünf Tage nach Gerhard Richter, das ist mein Brüderchen.
Das Gespräch führte Katja Kraft.