Friedhof der Kuscheltiere

von Redaktion

PREMIERENKRITIK Sapir Heller inszenierte „Animal Farm“ fürs Volkstheater

VON MICHAEL SCHLEICHER

Kurz vor dem Ende dieser zwei überzeugenden Theaterstunden ist sein Arbeitskampf vorbei und Boxer auf die Bretter geschickt. Dieser vormals so gewaltige Gaul, dieses gut trainierte Ross, für das Jan Meeno Jürgens auf der Bühne des Münchner Volkstheaters jede einzelne Muskelfaser angespannt hat, bricht einfach zusammen. Da nähert sich das Schwein, klopft Boxer aufmunternd die Schulter, hilft ihm wieder auf die Beine – um dann aufzusitzen und auf ihm zu reiten. Welche Qual für das Pferd, welche Demütigung für seinen Stolz. Kein Wunder, dass die Sau, die ihm das antut, den Namen Napoleon trägt.

Napoleon wird Boxer, den Kampfgenossen vom ersten Tag an, obendrein in jenen Wagen dirigieren, der den Klepper zum Abdecker bringt. Doch das ist nur mehr Fußnote. Der Bauernhof, auf dem Boxer, Napoleon und all die anderen Tiere einst an einer besseren Zukunft bauten, ist zu diesem Zeitpunkt längst hineingaloppiert in die Diktatur.

Boxers Demütigung durch eine andere Kreatur ist die anrührendste Szene dieser Premiere am Samstag im neuen Volkstheater an der Tumblingerstraße 29. Sapir Heller hat hier ihre Fassung von George Orwells „Animal Farm“ inszeniert. Die israelische Regisseurin, die am Haus bereits „Amsterdam“ (2019) und „Das hässliche Universum“ (2021) überzeugend verwirklichte, nutzt die berühmte Fabel des britischen Schriftstellers (1903-1950), um über Machtverhältnisse und gesellschaftliche Veränderung nachzudenken.

In seinem Text rechnete Orwell, überzeugter Linker, 1945 mit Stalin ab, dem er Verrat an Idee und Ideal des Sozialismus vorwarf. Heller arbeitet in ihrer sehr stimmigen, kompakten Produktion den Kern der Vorlage heraus – und übersetzt ihn ins Allgemeingültige. Dass sie dabei nie moralinsauer daherkommt, sondern ihre Inszenierung ein kreatives Spiel mit den Mitteln des Theaters ist, lässt den Abend gelingen.

„Animal Farm“ erzählt von einer Revolution: Bauer Jones ist ein Suffkopp und an wenig anderem als Alk interessiert. Seine Tiere wagen deshalb den Aufstand und verjagen Jones. Der Hof heißt fortan „Animal Farm“, die gemeinsam verwaltet wird. „Alles, was auf vier Beinen geht oder Flügel hat, ist ein Freund“ heißt eines der sieben Gebote, die sich Pferde, Schafe, Huhn, Kuh, Esel und Schweine geben; das wichtigste freilich lautet: „Alle Tiere sind gleich.“

Doch das Leben ist nun mal kein Ponyhof, und so wird aus der herrlichen Utopie in kurzer Zeit ein Friedhof der Kuscheltiere – mit einer Saubande als Totengräbern. Sie nehmen sich die Macht, die Herde folgt ihnen. Wer Widerspruch wagt, wird vertrieben, unterjocht oder liquidiert. Schon bald herrschen also Schweinerei und tierischer Terror. Die schöne Idee von der Gleichheit aller Kreaturen ist vor die Hunde gegangen.

Ein solcher tritt im Volkstheater auch tatsächlich auf: Hailey ist eine Labrador-Dame und übernimmt in Hellers Arbeit die Rolle der Erzählerin; Philipp Lind leiht ihr dazu seine Stimme. Alle anderen Tiere werden vom Ensemble gespielt – und das glückt hinreißend. Denn zusammen mit ihrer Regisseurin und der Choreografin Jenny Schinkler haben sich die drei Schauspielerinnen und acht Schauspieler Bewegungen erarbeitet, die klar an das von ihnen verkörperte Vieh erinnern. Nichts verkommt jedoch zur Karikatur.

Dabei formen sie nicht nur ihre Spezies, sondern auch den jeweiligen Charakter ihres Tiers. Steffen Link etwa zeigt sein Schwein Schneeball als feingeistigen Theoretiker der Revolution, der an das Gute im Tier und an die Idee der Gleichheit glaubt – bis in den Bügel seiner Nickelbrille. Dagegen ist Anne Steins Schwein Napoleon eine Frontkämpfer-Sau und in ihrer Lederjacke sowieso mehr der Typ für die Barrikaden. Klar, dass sie den Laden bald führen wird.

Das würde den beiden nie in den Sinn kommen: Julian Gutmann und Silas Breiding machen aus Wolly und Dolly ein herrlich hippeliges Hammel-Paar. Stillstehen? Ausgeschlossen! Wenn aber diese beiden Schafe Schäfchen zählen, um endlich einschlafen zu können, zeigt das nicht nur, mit wie viel Detailliebe und Witz Sapir Heller hier inszeniert hat, sondern auch, dass es vielleicht doch mehr gibt (geben muss?) als ein Hundeleben. Langer, herzlicher Applaus.

Nächste Vorstellungen

am 19., 20. und 25. Februar; Telefon 089/ 523 46 55.

Artikel 6 von 9