Sie gehen ins Geschäft, besuchen Gasthäuser, fahren mit der Trambahn: Der Alltag der meisten Menschen sieht aus wie immer – und all das Unrecht, das gleichzeitig geschieht, scheint die Mehrheit gar nicht wahrzunehmen. Dass genau diese Ignoranz und moralische Blindheit die eigentliche Barbarei ist, zeigt Irmgard Keuns Roman „Nach Mitternacht“, der im Deutschland des Jahres 1936 spielt. Erschienen 1937 in Holland, wo die Autorin des „Kunstseidenen Mädchens“ im Exil lebte, ist er jetzt in einer schönen Neuausgabe wieder zu entdecken. Der fast kindlich-naive Tonfall, in dem die 19-jährige Protagonistin die „Normalität“ der NS-Zeit schildert, erzeugt einen wirkungsvollen Kontrast. Unschuldige Plauderei prallt auf den politischen Horror, der sich immer deutlicher zeigt. So ist die Lektüre ein Wechselbad aus Schock und Komik. aa