Eine Frau in einem fremden Land. Allein. Keiner, der sie kennt. Sie schreitet durch die Drehtür des Hotels hinaus in die ihr unbekannte Stadt. Bühne frei für eine andere Version ihrer selbst.
In der Ferne können wir sein, wer wir daheim gern wären. Die Mutigen dürfen ängstlich sein, die Ängstlichen kühn, die Schüchternen aufmüpfig, die Lustigen ernst. Weil einem hier noch keiner eine Rolle zugeteilt hat. Vielleicht ist das der Grund, warum auch Doris Dörrie ihre Münchner Wahlheimat so häufig verlässt, um andere Welten zu entdecken. Und vielleicht ist ihr das erst so richtig bewusst geworden, als das Reisen wegen der Corona-Pandemie plötzlich nicht mehr möglich war. Mit ihrem heute erscheinenden Buch „Die Heldin reist“ erinnert die Schriftstellerin und Filmemacherin sich und uns daran, wie wertvoll es ist, in andere Kulturen abzutauchen. Und was verloren geht, wenn Reisen einzig virtuell geschieht.
„Ich schaue nur noch, lausche, rieche, taste, staune. Das Reisen katapultiert mich in pure Gegenwart.“ Doch dann: der Lockdown. Gelockt und down gibt es nicht mehr viel zu staunen. Ertasten verboten. Was tut eine erzählende Beobachterin wie sie in solchen Momenten? Dörrie-Kennerinnen wissen: Die 66-Jährige schreibt jeden Tag in ihre Kladde. Mindestens zehn Minuten Skizzieren ihrer Umgebung ist ihre tägliche Einheit Achtsamkeitstraining. Wie ein Eichhörnchen, das Eindrücke sammelt. Während des bitterkalten, erzwungenen Stillstands zehrt die fleißige Schreiberin von ihren Vorräten. Und, welch ein Glück, teilt in „Die Heldin reist“ nun Nuss für Nuss mit uns Lesern.
Es ist ein autofiktionales Buch. Nie weiß man, was die Autorin tatsächlich erlebt und was sie sich ausgedacht hat. Doch spielt das eine Rolle? „Was ich erzähle, wird in deinem Kopf sowieso zu einer anderen Geschichte. Und wenn du sie erzählst, verändert sie sich wieder. Und wenn sie jemand hört und liest, wieder. Die Wahrheit über mich verschwindet wie ein Tropfen Tinte in einem Glas Wasser“, lässt Dörrie ihre (reale?) Freundin Tatsu an einer Stelle sagen. Die Japanerin ist im selben Alter wie die Schriftstellerin, hat wie sie früher in Hannover gewohnt. Tatsus Leben: ein Drama in mehreren traurigen Akten. Doch indem Dörrie es erzählt, wird auch die kleine, dicke Frau zur Heldin.
Die andere Heldin der Geschichte ist die Autorin selbst. Wenn sie zwischen den anekdotenhaften Erinnerungen aus alten Briefen und Tagebüchern zitiert, sich die Doris von einst vergegenwärtigt, die als junge Frau nach Amerika ging, provoziert sie die Frage, inwiefern wir unsere eigene Geschichte umschreiben können. Kann man sich im alten Umfeld neu erfinden? Und nimmt man nicht auch auf Reisen sein eigenes, festgefahrenes, kulturell geprägtes Ich immer mit? Dazu ein äußerst vielsagendes (und äußerst komisches) Zitat der schreibenden Japan-Liebhaberin, das die Antwort auf den Punkt bringt: „Ich habe gelernt, auf Japanisch zu sagen: Ich brauche keine Plastiktüte, danke.“
Vielleicht geht es gar nicht um Veränderung. Vielleicht geht es um Innehalten. Reisen ist wie Tauchen. „Ich spreche die Sprache unter Wasser nicht, ich verstehe nichts und werde nicht verstanden, und genau das empfinde ich als wundervoll.“ Ein Schwebezustand wie in fremden Ländern. Pause von allem. Einatmen. Ausatmen.
Aus unserem eigenen Film können wir lebendig nicht aussteigen. Aber wir können andere Rollen ausprobieren. Die liebste Unternehmung in der Ferne ist für Dörrie und ihre Freundin Eva, exotische Läden und Kaufhäuser zu durchstreifen. Dann probieren sie im Minutentakt verschiedene Kleider an, bis sie Muskelkater in den Armen bekommen. Schwere Glieder, vor Glück hüpfende Herzen. „Wir benutzen die Läden als Bühne des immer gleichen Stücks: Wir könnten auch ganz jemand anderes sein.“
Doris Dörrie:
„Die Heldin reist“. Diogenes Verlag, Zürich, 240 Seiten; 22 Euro.
Lesung: Doris Dörrie stellt ihr Buch am 25. März, 20 Uhr, im Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, vor; Karten – auch für den Livestream – unter 01806/70 07 33 oder unter literaturhaus-muenchen. reservix.de.