„So habe ich es damals erlebt“

von Redaktion

Regisseur Kenneth Branagh über seinen autobiografischen Film „Belfast“

Furore machte Kenneth Branagh einst als Schauspieler und Regisseur durch eine Reihe kraftvoller Shakespeare-Adaptionen, darunter „Heinrich V.“ und „Hamlet“. Später verkörperte er den schwedischen Kommissar Wallander in einem Dutzend TV-Krimis und inszenierte Blockbuster wie „Thor“ oder „Cinderella“. Seine Agatha-Christie-Neuverfilmung „Tod auf dem Nil“ läuft seit zwei Wochen in unseren Kinos. Ab morgen ist dort sein bisher persönlichster Film zu sehen: In „Belfast“ nimmt uns der 61-jährige Nordire mit in seine Heimatstadt, ins Jahr 1969, in dem die Spannungen zwischen Protestanten und Katholiken explodierten.

Judi Dench hat erzählt, Sie hätten sie daheim besucht und ihr das komplette Drehbuch zu „Belfast“ in einem Rutsch vorgelesen. Stimmt das?

Ja. Wegen ihrer Augenprobleme fällt ihr das Lesen sehr schwer, und ich wollte sie unbedingt für den Film gewinnen. Wie alle wahrhaft großartigen Schauspieler kann sie äußerst aufmerksam zuhören – sie lauscht quasi mit mikroskopischer Intelligenz. Zudem ist sie eine verdammt scharfsinnige Kritikerin. Deshalb war ich furchtbar nervös, als ich ihr mein Drehbuch vorlas. Es war wie ein Testlauf für mich. Obwohl wir uns seit Jahren gegenseitig schätzen, hatte ich eine Heidenangst vor ihrer Reaktion. Dadurch wurde mir bewusst, dass mich die Dreharbeiten zu „Belfast“ emotional extrem belasten würden.

Inwieweit ist der Film denn autobiografisch?

Ich würde ihn als Autofiktion bezeichnen. Vieles von dem, was ich darin schildere, hat sich exakt so zugetragen. Die neunjährige Hauptfigur ist eine fiktionalisierte Version von mir, betrachtet aus der Distanz von 50 Jahren. Der Anblick des gewalttätigen Mobs, der an einem Nachmittag des Jahres 1969 durch die Straßen zog, hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Zuvor hatten alle Kinder in der Nachbarschaft friedlich miteinander gespielt und gelacht, doch plötzlich waren katholische Freunde für uns Protestanten tabu. Es hieß rigoros: „Wer nicht aktiv für uns ist, der ist gegen uns.“ Eine solche Denkweise ist einer Zivilisation unwürdig.

Wollen Sie mit „Belfast“ den Nordirland-Konflikt wieder ins Bewusstsein rücken?

Ich möchte, dass man nicht vergisst, wie die Bürgerkriegswirren angefangen haben und welche Borniertheit dahintersteckt. Seit dem Karfreitags-Abkommen von 1998 herrscht in Belfast zwar eine relativ friedliche Atmosphäre, aber noch im Frühjahr 2021 brachen wieder Unruhen aus. Der Frieden muss jeden Tag neu gewonnen und gelebt werden.

Im Film begegnet der Junge der heranrollenden Welle der Gewalt fassungslos – mit einem Schutzschild in Form eines Mülleimerdeckels…

Ja, so habe ich es selbst erlebt. Wir sind damals regelmäßig ins Kino gepilgert, um uns dort von Figuren wie Ivanhoe oder König Artus verzaubern zu lassen. Und nach der Rückkehr in unsere graue Alltagswelt haben wir mit unserer blühenden Fantasie versucht, die Filme nachzuspielen. Dabei mussten wir mit den Requisiten auskommen, die wir finden konnten – zum Beispiel Mülltonnendeckel. Oder kleine hölzerne Schwerter, die unsere Väter uns aus Ästen geschnitzt hatten.

Der Film suggeriert, dass Sie als Bub ein lausiger Ladendieb waren.

Stimmt, meine Diebstahlsversuche kann man nur als desaströs bezeichnen. Als ich in einem Laden ein paar Süßigkeiten klauen wollte, bin ich in Panik geraten und ohne Beute getürmt. Und als ich mich von einer Plünderer-Meute dazu anstiften ließ, ein Waschpulverpaket zu mopsen, schleifte mich meine völlig entsetzte Mutter zurück in den Supermarkt, um die Packung wieder ins Regal zu stellen. Für sie war es das Absurdeste und Schlimmste, was sie je mit mir erleben musste.

Haben Sie tatsächlich wie der Protagonist des Films als Neunjähriger heimlich eine Klassenkameradin angeschmachtet?

Ja, auch diese Geschichte ist wahr. Ich habe mich tagelang vor ihrem Haus herumgetrieben und fieberhaft überlegt, wie ich sie ansprechen könnte. Letztlich hat sie mir eine bittere Lektion beigebracht: Die Menschheit lässt sich einteilen in Künstler und Wissenschaftler – und die Künstler sind nicht immer die Lieblinge der Mädels. Meine Angebetete stand leider auf Jungs, die im Gegensatz zu mir gut in Mathe waren. Poesie und schöne Worte fand sie offenbar nicht so sexy wie Zahlen.

Und haben Sie die junge Dame später je wiedergesehen?

Nein, ich habe sie nie mehr getroffen. Aber ich war stets felsenfest davon überzeugt, dass sie den Zahlentypen geheiratet hat, der in der Schule neben ihr saß. Jede Wette! Obwohl: Wer weiß? Was wirklich passiert ist, wird vermutlich immer ein Geheimnis bleiben – sozusagen das „Rosebud“-Rätsel von Belfast! (Lacht.)

Das Gespräch führte Marco Schmidt.

Artikel 4 von 11