Ja, er ist ein eigenbrötlerischer Mann. Wie Michael Krüger in „Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah“ seinen Ich-Erzähler von dessen plötzlicher existenzieller Qual berichten lässt, nimmt nach ziemlich skurrilen zunehmend tragikomische Züge an. Da blickt einer, selbst nicht mehr jung, splitterweise auf sein Leben zurück. „Seltsam, was man alles denkt, wenn man auf ein Flugzeug warten muss.“
Was sich da alles am Lufthansa-Terminal, Abflug nach München, tummelt: aufgedonnerte, überschminkte, auf exzentrisch machende „Wohlstandswracks“, alte deutsche Männer, die aussehen „wie Salatblätter, die zu lange im Kühlschrank gelegen hatten“. Er hat Zeit, sie alle zu beobachten. Für den Flieger wird Verspätung gemeldet. Und der füllige, alte Mann im Pelz, mit Rollkoffer und Tüten, ziemlich heruntergekommen, einen Platz suchend, setzt sich ausgerechnet dreist zu ihm. Einfach ignorieren.
Aber dieses stinkende Monster soll er von nun an nicht mehr loswerden. Nicht im Airport-Hotel, in dem die Passagiere, nachdem der Flieger ganz ausfällt, übernachten müssen. Auch nicht in München, nicht im Taxi nach Hause, nicht in seiner Wohnung, in die sich der schwadronierende Namenlose wie selbstverständlich einnistet. Ein Parasit, der sich aushalten lässt und dazu noch Ratschläge erteilt, der mit der ganzen Welt telefoniert, den roten Korbsessel okkupiert, der überhaupt alles in Beschlag nimmt, was ihm, dem Ich-Erzähler, gehört, der sich in dessen Künstleragentur auf Anhieb beliebt macht, der von Schauspielern und „normalen“ Menschen bewundert im bayerischen Lieblingslokal Hof hält und sogar beginnt, als Produzent einen Film über den „deutsch-baltischen-ostelbischen“ Adel zu drehen.
Von ihm ging trotz seiner Ärmlichkeit eine Aura des Luxus aus, schreibt der Ich-Erzähler in sein Notizbuch. „Aber so sehr ich mir einzureden versuchte, dass mich das alles nichts anginge, es ging mich etwas an.“ Wer ist, wer war dieser Mann, der weder Papiere noch Kreditkarten hat, weil sie ihm angeblich gestohlen wurden; der gebildet und hochmütig ist, der vier Sprachen beherrscht und mit seinen russischen Tanten aus Odessa (!) mit Besitz in Nizza angibt („Wenn Sie in Nizza Französisch sprechen, wird Ihnen der Kredit gesperrt.“); und der sogar mit Jack Lang und François Mitterrand diskutiert haben will? Jetzt aber sieht er aus, als ob er wüsste, dass seine Zeit abgelaufen ist. „Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich, dass es nicht mehr auf mich ankam. Nein, ich wusste es.“ War dieser Geheimnisvolle, den er sich da ins Haus geholt hatte, etwa der Tod oder einer seiner Stellvertreter?
Alle außer ihm mögen diesen alten Zausel, ob die Cousine aus Paris, die Nichte aus Köln, Ana aus Spanien oder Frau Huber, die Nachbarin aus dem Haus. Auf ihn selbst wirkt der unliebsame Gast wie ein Katalysator, der Erinnerungen freisetzt an seine frühen Reisen nach Frankreich, wo er in Nantes auf Parkbänken übernachtete, oder an den unfreiwilligen Tausch der Smoking-Jackets mit einem bayerischen Ministerpräsidenten. Ebenso aber auch Empörung über den aktuellen Buchmarkt, der die Klassiker der alten Griechen verbannt und uns mit Romanen von Bankern, Versicherungskaufleuten und Sportlern überschwemmt. Die Beschäftigung mit der eigenen Endlichkeit, die ihm „die Dürftigkeit des eigenen Wissens“ bewusst macht – dafür bietet dieser schmarotzende Nutznießer des Lebens dem Ich-Erzähler reichlich Anlass.
Das ist keine Autobiografie des Schriftstellers Michael Krüger, es ist die wunderbare literarische Erzählung eines immer in selbstironischer Distanz lebenden Mannes, der sich am Ende auf sehr berührende Weise diesem so lästigen wie großen Unbekannten annähert.
Michael Krüger:
„Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah“. Suhrkamp, Berlin, 220 Seiten; 22 Euro.