Vielleicht ist alles ganz anders. Vielleicht ist der Mann kein Eigenbrötler, kein Besonderling, kein Verdachtsfall für Kindesmissbrauch. Sondern einfach fremd, weil er der Masse, die alles schon immer gewusst haben will, etwas entgegensetzt. Eine alternative, sicher auch anfechtbare Möglichkeit des Daseins, eventuell sogar einen Türöffner heraus aus diesem bornierten Dorfleben. Auch deshalb weitet und streckt sich die grandiose Bühne von Silke Bauer immer wieder, wird vom gedrungenen Theatersaal zur hölzernen Kathedrale. Und gern öffnet sich da noch ein Vorhang, gibt den Blick frei auf das flirrende Meer, den Sternenhimmel – oder auf die Schicksalsfahrt von Peter Grimes.
Eindeutig, das ist große Kunst nie, erst recht nicht Benjamin Brittens Opernerstling, von Regisseuren gern auf eine Sugardaddy-Perversion verengt. Stefan Herheim, der manchmal mehr mitdenkt und zeigt, als es einer Produktion guttut, lässt auch hier vieles zusammenfließen und offen. Doch so stringent, so fokussiert war der Norweger lange nicht.
Es ist ein Meisterstück, das ihm bei seinem späten Debüt an der Bayerischen Staatsoper glückt. Eine Aufführung, die sich auch gegen die Realität draußen behaupten muss: Bekanntlich verhinderte Omikron ursprünglichen Premierentermin. Beim Zweitversuch nun war Herheim selbst erkrankt, der sich alles im Live-Stream anschauen musste. Vor dem ersten Takt Britten dann noch eine Ansprache von Intendant Serge Dorny, der europäische Werte gegen den Krieg beschwor – und das durch die Europahymne, Beethovens „Freudenthema“, anschließend bekräftigen ließ.
Was sich danach ereignete: ein Abend, der sich in seinem mehrfach gebrochenen Realismus die Hauptperson vornimmt. Und die ist nicht der Titelheld, sondern der Chor. Herheim zeigt ihn in mehrfacher Gestalt. Als Naturkraft, wenn die Sängerinnen und Sänger zur Tür hereintreiben, hin- und herwogen wie das stürmische Meer. Als Mob, der mit ausgestreckten Zeigefingern verurteilt, sich gegen Grimes und (bei eingeschalteten Saallicht) an uns wendet. Als Gesellschaft, durch die Frontlinien zwischen den Geschlechtern gehen. Und als Ansammlung von Individuen, die mit wenigen Regie-Strichen schraffiert sind.
Denn abgesehen vom uneindeutigen, dreifachbödigen Konzept: Der Abend besticht auch durch seine Theatralität, durch eine handwerkliche Qualität, die man hier lange nicht erlebt hat. Angefangen vom subtilen Licht-Einsatz über das Bewusstsein für Bühnen-Balance und Verschiebung von dramatischen Kraftfeldern bis hin zur immensen Musikalität. Szenisches Geschehen und Partitur sind eng verzahnt. Das verdoppelt sich nicht gegenseitig, sondern liefert Gedankenkost und echten Mehrwert. Und dass die Premiere nach der Pause etwas durchhängt, kann man auch Britten anlasten, bei dem die finale Katastrophe einen langen Anlauf nimmt.
Die Theater-Chiffre, mit der Herheim gern arbeitet, funktioniert auch hier. Diese Brettlbühne ist nicht nur Treff- und Angelpunkt der Dorfgesellschaft. Sie wird zum Ort des Voyeurismus, wenn sich die Menge Grimes’ Schicksal wie einen Thriller gönnt – ohne auch nur einen Versuch von Integration oder Empathie zu unternehmen. Und trotzdem verurteilt Herheim nicht, sondern will erklären. Alle werden sie damit zu Sympathieträgern. Ellen Orford, von Rachel Willis-Sørensen mit Seelentönen gesungen, die sie aus reicher Mittellage entwickelt. Auch Balstrode, der bei Iain Paterson nicht nur knorriger Kapitän ist, sondern – in der vokalen Nuancierung – auch einer, der begreift und verzweifelt. Dazu Auntie, die Claudia Mahnke zwischen Bizarrerie und dunklem Engel schillern lässt. Oder Ned Keene, von Konstantin Krimmel mit nur scheinbarer jugendfrischer Naivität gestaltet.
Mag das Meer alles sein, auf das sich Britten musikalisch bezieht: Bei Dirigent Edward Gardner und dem Bayerischen Staatsorchester bedeutet das nicht Rausch, sondern scharfkantiges Relief. Wie Gardner der ausgreifenden Komposition Kontur gibt, wie er Schichten profiliert, auch im Leisen zuspitzt, wie er instinktsicher das Dramatische bedient und dabei nichts an den Effekt verrät, wie er engen Kontakt zu allen hält, das ist das musikalische Ereignis dieser Produktion. Als habe jemand ein Objektiv zusätzlich nachgeregelt und eine Super-Linse eingefügt, so kristallklar tönt bei Gardner der Zweieinhalbstünder.
Dazu kommt die große Präzision. Vor allem der Staatsopernchor, musikalisch und endlich auch szenisch gefordert, wächst weit über sich hinaus. Bis zu jenem Moment, als alles leer wird und nur noch Grimes auf der Bühne ist. Ein verletzlicher und verletzter Bulle, von Stuart Skelton als Grenzgang gesungen und gespielt. In gebrochenen Farben lässt er seinen schönen Heldentenor leuchten – und auch (bewusst?) Angestrengtes zu.
Erst am Ende, als Grimes gekleidet ist wie sein Lehrjunge, wird klar: Da ist noch etwas anderes, ein verheerendes Trauma. Herheim zeigt diesen Solo-Moment als grandiose Reminiszenz an die Belcanto-Oper, als vollkommene Vereinsamung eines Ausgestoßenen. Gemeinhin und vordergründig wird so etwas ja als „Wahnsinnsszene“ gedeutet. Dabei signalisiert es doch viel mehr, viel Größeres: ein Scheitern an sich und an der Welt.
Weitere Vorstellungen
am 10. und 13. März sowie am 9. und 12. Juli; Telefon 089/21 85 10 20, Internet-Aufzeichnung unter staatsoper.tv.