Auf Seite 663 bringt er sich schließlich selbst ins historisch-literarische Spiel. Er bekennt seine Vorliebe für die alte Geschichte: „Die völlig zerschossene Kutsche, die über keinerlei Panzerung verfügte, ist heute zusammen mit den Revolvern der Mörder, die gefasst und gehenkt wurden, im Kriegsmuseum in Harbiye ausgestellt. Wie der geschichtsversessene Schriftsteller Orhan Pamuk mir einmal verriet, pflegte er das keine fünf Minuten von seiner Wohnung in Nisantasi entfernte Museum eine Zeit lang jede Woche zu besuchen.“
Gestorben, gemordet, gehenkt wird wahrlich viel im Roman des türkischen Literaturnobelpreisträgers Pamuk, „Die Nächte der Pest“, einer Melange aus historischem Dokument, Krimi, Räuberpistole, Liebesgeschichte und immer wieder Märchen aus tausendundeiner Nacht. Und wer sich durch dieses detailversessene Konvolut liest, spürt, dass der Autor beim Recherchieren, Schreiben und Erfinden voller Freude genießt, der Welt mit seiner Kunst des Erzählens diesen herrlichen Roman zu schenken.
Im Zentrum steht die traumschöne, fiktive kleine Mittelmeerinsel Minger, die zum Osmanischen Reich gehört. Hier leben Griechen, Türken und „eingeborene“ Mingerer, also orthodoxe Christen und Moslems, friedlich miteinander. Regiert werden sie vom jeweils durch den Sultan in Istanbul eingesetzten Gouverneur. Aktuell, im Jahr 1901, ist das Sami Pascha. Handlungszeitraum sind zwar nur fünf Monate dieses Jahres, die allerdings haben es in sich.
Das paradiesische Eiland wird heimgesucht von der Pest. Und das junge Ehepaar aus Istanbul, der Arzt Damat Doktor Nuri und seine Frau Pakize Sultan, Tochter des gewaltsam abgesetzten und Nichte des regierenden Sultans, das sich gerade auf einer Schiffsreise nach China befindet, muss, weil der Sultan es so will, in Minger von Bord. Doktor Nuri ist ein weltweit anerkannter Quarantänespezialist. Jetzt soll er kurzerhand auf der Insel für medizinische Ordnung sorgen. Die Seuche darf keinesfalls aufs Festland übergreifen, schon gar nicht aufs europäische. Darum riegeln auch wenig später die Panzerkreuzer der Engländer und Franzosen Minger von der Außenwelt ab. Was das frisch verheiratete Paar hier erlebt, wird es fürs ganze Leben prägen.
Und wir Heutigen, die den wahren wie auch fiktiven Geschichten des Romans mit Wonne folgen, können immer wieder nur staunen, wie nahe uns, 120 Jahre später, diese Ereignisse sind. Mit welchem Gespür, welcher Ahnung Orhan Pamuk 2016 seinen Roman zu schreiben begann, als von der Corona-Pandemie noch niemand etwas wusste, zeugt von prophetischer Vision des bedeutenden Schriftstellers.
Minger, die Insel zwischen Kreta und Rhodos, steht als Parabel für das im Zerfall befindliche Osmanische Reich und auch für die Welt unserer Zeit. Denn die Pest kehrt das Unterste zuoberst. Niemand will die unaufhaltsame Seuche wahrhaben. Die Quarantäne-Bestimmungen werden abgelehnt, die politische Ordnung wird infrage gestellt, der fromme Glaube der Inselbewohner wird von den Scheichs zur Festigung der eigenen Macht ausgenutzt. Totenfeuer erhellen den Nachthimmel. Aber es wird protestiert und demonstriert, gelogen und gemordet, erstochen und vergiftet, gestohlen, gehungert, gehetzt und manchmal auch geliebt.
Die Zahl der Pestopfer steigt rasant. Eine Revolution findet statt, die Insel erklärt sich für unabhängig, Kamil Pascha, ein einfacher Mann, wird ihr Held. Doch das alles währt nur kurz. Plötzlich hat der einflussreichste Scheich der Insel mit seinen Derwischen das Sagen, was sich tödlich auswirkt. Auf ihn folgt eine Frau, die sie Königin nennen und die alles zum Guten wendet. Weltgeschichte im Zeitraffer. Vor der Pest „war die Insel fern von allen Streitereien, Kriegen und Seuchen noch ein so friedlicher Ort gewesen, dass man sich politische Debatten und Freundschaften leisten konnte, wie sie mittlerweile undenkbar schienen“, lässt Pamuk die von ihm erfundene Autorin des Romans sagen.
Wie er überhaupt diesem Buch den Anschein des Dokumentarischen verpasst, indem behauptet wird, dass die genaue Kenntnis über diese verheerenden Monate der Pest hauptsächlich aus jenen Briefen stamme, die Pakize Sultan, die Frau von Damat Doktor Nuri, beinahe täglich an ihre Schwester geschrieben habe. Einen davon habe sie mit „Die Nächte der Pest“ betitelt. Darin erzählt sie von der gespenstischen Nachtwanderung ihres Mannes durch die verseuchte Stadt.
Bei aller Fantastik und der Lust des Autors am Fabulieren wie dem farbenfrohen Ausschmücken seiner Protagonisten ist dieser Roman auch von hoher gesellschaftlicher Brisanz. Dann nämlich, wenn Pamuk deutlich wird und den Gouverneur Sami Pascha im Bett seiner Geliebten den Zusammenhalt des Volkes beschwören lässt. Auf Marikas Einwand, das Moscheen- und Kirchenverbot müsse aufgehoben werden, da sonst das Volk nicht die Quarantäne akzeptieren würde, antwortet der Gouverneur: „Was ist mit dem Volk gemeint? Zum Volk werden wir hier nicht durch eine Moschee oder eine Kirche, sondern dadurch, dass wir von dieser Insel stammen. Wir sind das Volk dieser Insel.“ Für Marika, die Griechin, steht aber fest: „Ohne Glocken und ohne Gebetsruf gedeiht nur der Tod.“
Orhan Pamuk:
„Die Nächte der Pest“. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München, 694 Seiten; 30 Euro.